Neben Der Spur
Fried in ihrer Schwärmerei zu unterbrechen.
Von jeher ist es Gudrun schlecht gelungen, ihr Umfeld darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihren Neffen erst vierzehnjährig näher kennengelernt hat. Als man ihn ihr in Form einer weiteren Lebensaufgabe – als Zusatzlast zu der keinesfalls angestrebten Firmenleitung – ins Nest gelegt hat. Ein sperriger, lethargischer Junge ohne Charme, mit Sommersprossen, Brille und orthodoxem Weltbild. Soll sie vor versammelter Belegschaft aufzählen, was sie alles unternommen hat, damit das Familienunternehmen in Valentin einen würdigen Erben gewinnt? Als da wäre, ihn zu adoptieren und ihm den Nachnamen Hepp zu sichern, da sein Geburtsname Metzger unpassend im Zusammenhang mit einer vegetarisch arbeitenden Firma gewesen wäre. Soll sie bekennen, was der Besuch der Privatschule gekostet hat, in der ihm schließlich – nach nur einer einzigen Wiederholung der elften Klasse – ein leidliches Abitur gelang? Soll sie allen auf die Nase binden, wie undankbar er ist, das für ihn ausersehene Betriebswirtschaftsstudium auszuschlagen? Weil ihn angeblich nur Philosophie und Religion begeistern. Und weil ihn die Übernahme des Familienunternehmens keinen Deut interessiere, wie er kürzlich bekannt hat. Zu seinem neunzehnten Geburtstag wollte er seine Firmenanteile ausbezahlt bekommen, um das Geld einer Tierschutzorganisation zu spenden. Man stelle sich so etwas vor! Zum Glück konnte Rolf ihm dies ausreden. Konnte ihn dazu bewegen, bis zum Ende seines Studiums, welches Studiums auch immer, zu warten. Dann könne Valentin ja sein Geld gezielt für eigene Projekte verwenden, hat Rolf argumentiert. So ist wenigstens Zeit gewonnen. Hoffentlich genug Zeit, um Valentins Verstand auf die Sprünge zu helfen. – Ach, Rolf! Warum ist Rolf schon wieder weg, so weit weg!
Als könne sie Gudruns Gedanken lesen, schlägt Frau Fried einen enormen thematischen Bogen von der Kindererziehung im Wandel der Zeiten über die Abwesenheit der Väter als männliche Vorbilder im Allgemeinen bis zur Abwesenheit des Geschäftsführers im Besonderen. »Wie bedauerlisch, dass de Herr Westenberger jetzt schon widder nach Tschechie musst«, sagt sie und schüttelt den Kopf, dass ihre Fissellocken zittern.
»Tja«, sagt Gudrun, »seine Anwesenheit dort ist gelegentlich nötig.«
Es sei leider nötig, den Mitarbeitern des beauftragten Diätinstituts in Cheb bei ihren Testanordnungen auf die Finger zu sehen, so hatte Rolf ihr gegenüber ausgeführt. Der Wissenschaftsbegriff in diesem Land sei mit dem unseren nun einmal nicht identisch. Und wenn man nicht korrigierend eingreife, dann käme niemals eine Studie zusammen, die überzeugend genug wäre, um, wie angestrebt, in der renommierten Forschungszeitschrift nature veröffentlicht zu werden. »Hieb- und stichfest müssen die Daten sein, hieb und stichfest …«, hatte er betont. Seine fahrigen Gesten und das Zucken seiner Lider hatten bei Gudrun den Verdacht geweckt, dass er log.
»Hieb- und stichfest müssen die Daten sein«, erklärt Gudrun, öffnet der Personalbeauftragten schwungvoll die Türe, um sie hinter ihr mit allem Nachdruck wieder zu schließen. Aufatmend nimmt Gudrun an ihrem Flügel Platz und spielt – als kleine Lockerungsübung – das herrliche Andante aus dem zweiten Satz, das sie schon recht gut beherrscht. Doch unweigerlich folgt der dritte Satz, der einen neuen Fingersatz erfordert.
Leider ist das Notieren von Fingersätzen nicht gerade eine fesselnde Tätigkeit. Und so schweifen Gudruns Gedanken bald wieder ab: Was lockt Rolf immer wieder nach Tschechien, wenn nicht eine andere Frau? Nicht, dass er ein Filou wäre, ein Casanova oder seinem Trieb unterworfen. Gudrun ist weiß Gott erfahren genug, um sich nicht auf solche Kerle einzulassen. Nein, Rolf ist durchaus beständig in seinem libidinösen Engagement. Umso begründeter sind Gudruns Befürchtungen. Wenn Rolf eine Affäre hat, dann steckt keine austauschbare Bettgespielin dahinter, sondern etwas Ernstes.
Umso besser, dass Gudrun seine Heiratsanträge bislang konsequent abgelehnt hat. Wenn er es wagen sollte, sich mit einer anderen Frau einzulassen, dann ist ihrer beider Liebesbeziehung genauso beendet wie ihr Arbeitsverhältnis. Dann fliegt er.
Ja, dann fliegt er! Wut kocht in Gudruns Magengrube, rast in die Arme, die Hände, die Finger. Sie wirft die Notenblätter zu Boden, haut in die Tasten. Do-do-do-domm-domm … Der stürmische Einstieg in den dritten Satz Allegro moderato molto e
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