Neben Der Spur
Drittel. Ein paar Seiten sind rausgerissen. Was hatte die vornehme Familie da wohl zu verbergen?«
Karo blättert, erkennt tatsächlich eine säuberliche Lücke in der Fadenheftung von vielleicht vier herausgetrennten Seiten. »Stimmt! Hätte ich allein nicht bemerkt. Danke!«
»Irgendwas könnte 48 vorgefallen sein, was die Hepps geheim halten wollten. Vielleicht gibt’s auf den restlichen Seiten eine Spur.«
Karo prüft das Blatt, das auf die Lücke folgt, findet einen Satz am oberen Blattrand und bemüht ihre im Internet erlernten Sütterlin-Kenntnisse. … mehr Geschmack durch Anrösten des Kohls und der Zwiebeln … – Tja, so könnte es lauten. Nix Spektakuläres. Vermutlich hat Mutter Luise sich ein Rezept notiert und es dann herausgelöst, um es in ihrer Küche aufzubewahren. Jedenfalls folgt auf dem gleichen Blatt eine jener Karo schon bekannten Einkaufslisten: Butter, Mehl, Quark und so weiter, hier mit dem jeweiligen Preis in D-Mark.
Aber Karo will Rick nicht enttäuschen. Sie gießt ihm Kaffee nach. »Ja, da könnte echt was dahinterstecken.«
»Such doch mal in der Kirchenchronik des Dorfs! Da ist viel vermerkt, worauf man nie käme. Und frag den alten Gernot. 1948 war der immerhin sechzehn oder siebzehn Jahre alt.«
»Mach ich«, verspricht Karo und küsst Rick auf den Mund. »Aber jetzt müssen wir los!«
Sie fahren wie immer getrennt zur Firma, weil vorläufig keiner der Kollegen von ihrer Beziehung wissen soll. Rick flirtet ausgedehnt mit Frau Fried und nimmt an ihrer ganzheitlichen, heute an den Fünf Tibetern orientierten Morgengymnastik teil.
Karo täuscht eine Knieverletzung vor, hockt sich ans Telefon und checkt viertelstündlich ihre Mails. Nichts.
Seufzend betrachtet sie Luise Hepps Haushaltsbuch. Wenn es, wie Rick sagt, im Werksarchiv herumlag, darf sie es ganz offiziell lesen. Immerhin findet sie bald nach den herausgerissenen Seiten ein bisschen Prosa. Dort vermerkt Luise Hepp:
… wie erschüttert die ganze Familie ist, seit wir mit Sicherheit wissen, dass die Gaskammern und Ausbeutungslager der Nazis sowie die massenhafte Ermordung von Juden keine Feindpropaganda ist, sondern die Wahrheit. Auch sogenannte Geisteskranke wurden in den vermeintlichen Pflegeanstalten gequält und schließlich massenweise …
Die Buchstaben werden von Wort zu Wort krakeliger, brechen schließlich ab, ein kleiner Tintenfleck erscheint zum Rand hin verwischt. Erst eine Aufschlagseite weiter beginnt, versehen mit dem Datum 10. November, die nächste ordentliche Auflistung von Luise Hepps Einkäufen auf dem Markt.
Das sieht nun gar nicht nach einer strammen Nazianhängerin aus, sondern nach einer trauernden Mutter, die verspätet erfährt, was ihrem Sohn widerfahren ist. Seltsam!
Das Telefon reißt Karo aus ihren Gedanken. Sie erschrickt, greift sofort nach dem Hörer. Es ist die Chefin.
»Wissen Sie zufällig, wo Herr de Beer stecken könnte?«, fragt sie mit unüblicher Unsicherheit in der Stimme. »Auf allen Kanälen läuft nur ein Anrufbeantworter.«
»Er hat sich doch freigenommen«, lügt Karo
»Ach so, stimmt ja.« Gudrun Hepp lacht kehlig. »Hab ich glatt vergessen.«
»Kann passieren.« Karo legt den Hörer sanft zurück auf seine Station.
Du weißt, dass du keinen Cognac trinken sollst, Hermann. Also lass es! Gudrun schimpft … Von der kleinen Flasche im Hängeregister deines Schreibtischs weiß sie aber nichts … Also, lass uns ein Glas auf dich trinken. Weil heute dein Todestag ist – dein Todestag … Prosit, Hermann!
Was du gelitten hast in Hadamar? Wir ahnten es nicht einmal. Eine Seuche sei ausgebrochen, mehrere Insassen innerhalb weniger Tage daran verstorben. So schrieb die Heimverwaltung der Mutter. Wegen der Ansteckungsgefahr und der Sommerhitze seien die Leichen sofort bestattet worden. Das Gemeinschaftsgrab befinde sich auf dem Gelände … mit großem Bedauern … Heil Hitler!
Und wir haben es geglaubt, Hermann – haben es geglaubt. Weil das Euthanasieprogramm auf Verlangen der Kirchen doch schon 1941 ausgesetzt war. Weil Hitler selbst ein Gesetz unterzeichnet hatte, wonach auch unheilbar Kranken künftig ausreichend Nahrung und Pflege zukommen müsse. Weil das böse Wort von den ›Ballastexistenzen‹ fortan in den Journalen nicht mehr fiel. Und weil die erneuerte Heil- und Pflegeanstalt in Hadamar einen guten Eindruck auf Mutter machte.
»Nun ja, die Einrichtung ist etwas kärglich«, so hat die Mutter von ihrem Besuch bei dir erzählt, »aber alles
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