Neben Der Spur
Dabei überschüttete er sie mit Küssen, hob sie auf seine Arme und trug sie in sein Bett. Gudrun war davon so peinlich berührt und beglückt zugleich, dass sie fortwährend lachen musste und kaum eine erotische Regung empfand. Was er, Gott sei Dank, nicht bemerkte.
Dann, beim gemeinsamen Frühstück, eröffnete er ihr, dass er nach Tschechien müsse. Wieder einmal. So überraschend wie nie.
Diese Reise habe sicher Zeit bis nach dem Konzert, wandte Gudrun ein.
»Leider, leider, leider nein«, sagte er da und verzog den Mund, als schmerze ihn diese Entscheidung selbst am allermeisten. Aber er werde ganz gewiss schon am Freitagvormittag zurück sein. Allerspätestens am Nachmittag.
Gudrun gab sich sachlich. Fragte, worum es denn konkret gehe. Und wozu solche Eile nötig sei.
Da schlug er die Hände vors Gesicht und seufzte schwer. Er habe ihr die Nachricht ersparen wollen. Aber wenn er es ihr denn bekennen müsse: Eine der Versuchspersonen habe einen allergischen Schock erlitten und liege nun im Koma. Er müsse den jungen Mann, falls nötig, sofort in eine deutsche Klinik überführen lassen. Dies sei seine moralische Pflicht und überdies im Interesse der Firma und so weiter. Ja, selbstverständlich habe man bei der Rekrutierung der Probanden alle Risiken und Vorerkrankungen abgefragt. Und doch sei nun solch ein Fall aufgetreten, gewiss nur, weil die Angaben in der Personalakte falsch oder unvollständig gewesen seien. – Nein, weder ihn, Rolf, noch die Wissenschaftler des beauftragten Instituts treffe eine Schuld. Er sei sicher, alles in Ordnung bringen zu können. Gudrun solle ihm vertrauen. »Vertrau mir doch«, bettelte er. Und Gudrun half ihm, seinen Koffer zu packen.
Bei der Erinnerung daran wird ihr flau im Magen. Sie liest weiter.
Einmal hat Michael Hals über Kopf unsere gemeinsame Wohnung verlassen mit der Begründung, dass ein Jugendfreund von ihm einen Selbstmordversuch unternommen habe. Die Eltern hätten ihn dringend gebeten zu kommen. In Wahrheit hatte seine Ehefrau das zweite Kind überraschend früh zur Welt gebracht …
Es reicht. Gudrun klappt das Heftchen zu, wirft es, wieder in die Financial Times eingewickelt, in den Papierkorb und müht sich um Ablenkung. Sie besucht ihren Onkel Hermann, spielt mit ihm eine Partie Schach, bis er abbricht und wieder einmal von einer Verwirrung befallen wird, der Arme. Diesmal fantasiert er von Amerikanern in graugelben Mänteln, die ihn verfolgen.
»Ich muss mich Ihnen stellen, Gudrun, muss mich ihnen stellen.«
»Das sind nur die Securityleute, Onkel Hermann. Alles Deutsche, Italiener und Türken. Sie bewachen das Firmengelände. Sie tun dir nichts«, versichert sie.
Er glaubt ihr nicht, schläft leise weinend ein.
Unentschlossen begibt sich Gudrun ins Musikzimmer, klappt den Flügel auf. Macht ein paar Fingerübungen die Tonleiter rauf und runter, spielt, um sich auf Griegs schwieriges Klavierkonzert einzustimmen, das witzige kleine Stück aus seiner Peer-Gynt-Suite, das eigentlich für Orchester komponiert ist: Dabba-dabba-dabbada dabbada daaa … Dibbi dibbi dibbidi dibbidi diii … ein Stück, das sie schon als Kind geliebt hat. Immer die frechen kleinen Trolle vor Augen, wie sie durch die unterirdische Halle des Bergkönigs schleichen, hüpfen, tanzen … während Gudrun, artig am Klavier sitzend, ihnen die Musik für ihre Kapriolen lieferte.
Sie spielt, bis die Uhr halb sechs anzeigt und die meisten Mitarbeiter ihre Büros verlassen haben dürften, geht gemessenen Schritts vom Wohnhaus hinüber zum Verwaltungsflügel – dabba-dabba-dabbada – und winkt dem Wachmann neben dem Eingang zu.
»Hab eine Unterlage verbummelt«, ruft sie hinüber, entschärft die neue elektronische Einbruchmeldeanlage und begibt sich schnurstracks in Rolfs Büro. Sein Schreibtisch gähnt vor Aufgeräumtheit. Gudrun zieht die Schubladen auf. Büroutensilien, sonst nichts. Sie hört den Anrufbeantworter ab. Keine Nachrichten. Der Zugang zu seinen Mails ist natürlich mit einem Passwort gesichert. Weder G-u-d-r-u-n noch der Vorname seiner Mutter öffnet den Account, auch die einschlägigen Geburtsdaten nicht. Vielleicht könnte Gudrun Hans-Bernwards dubiosen Bekannten, diesen Hacker bemühen, wenn der mit dem Aufspüren von Valentin so weit ist. Aber es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben, ihren Verdacht zu erhärten. Oder zu zerstreuen …
Gudrun nimmt in einem der Sessel in der Konferenzecke Platz und denkt nach. Rolf hat im Garten seines
Weitere Kostenlose Bücher