Neben Der Spur
Hauses immer einen Ersatzschlüssel vergraben für den Fall, dass er sich versehentlich ausschließt. Gudrun kennt die Stelle. Er hat sie ihr mit einer Geste größter Offenherzigkeit einmal verraten. »Falls mir einmal etwas passieren sollte, kannst du dich um meine Angelegenheiten kümmern«, hat er erklärt.
Gudruns Blick fällt auf den kleinen Drachenbaum neben der Couch. Er steckt in lockerer, feuchter Erde. Sie bohrt ihre Fingerkuppen hinein, zieht sie wie einen Rechen im Kreis … Treffer! Sie stößt auf etwas Hartes, etwas Blechernes, schabt den Gegenstand frei, zieht ihn mit spitzen Fingern heraus. Es ist eine Pillendose mit Blumenornament, Geschenk der örtlichen Apotheke, wie die Unterseite verrät. Und was ist drinnen? Bestimmt keine Pillen. Sie öffnet den Deckel vorsichtig, findet einen Schlüssel. Einen Schlüssel wie zu einem Schließfach, zweibärtig und mit eingravierter Nummer. Ein Bankfach vielleicht? Dann hat Gudrun keine Chance. Oder es handelt sich um eine öffentliche Schließanlage, an die auch Rolf jederzeit herankommt, wenn es notwendig ist. Zum Beispiel am Bahnhof?
Mainz, Hauptbahnhof, Vorhalle zum Bahnsteig eins Richtung Wiesbaden. Es ist später Abend und der Abschnitt mit den Schließfächern wie leergefegt. Gudruns Sandaletten klackern über die Fliesen. Dibbi-dibbi-dibbidi, dibbidi, dii … Und ihr Herz klopft. Dobbo-dobbo-dobbodo … Fühlt sie sich klein und schlecht wie die betrogenen Frauen in dem Magazin, die heimlich die Hosen- oder Brieftaschen ihrer Liebhaber durchwühlten? Nein, kein bisschen! Klein und schlecht wird sie sich erst fühlen, wenn sie nichts anderes als etwas Bargeld findet oder eine Kreditkarte zu einem privaten Sonderkonto. Oder vielleicht Rolfs Nappalederjacke, die er nur gelegentlich und auf Reisen trägt, um sich Frau Frieds Schelte zu entziehen. Ja, dann vielleicht wird Gudrun ein Schamgefühl überkommen …
Das Fach mit der Nummer 036 befindet sich auf halber Höhe rechts. Gudrun zieht den Schlüssel aus der Innentasche ihres Sakkos, setzt ihn an – und gratuliert sich selbst zu ihrem Kombinationsvermögen. Er passt. Sie muss wegen Zeitüberschreitung nachzahlen, dann springt die Tür auf. Eine transparente Plastikmappe, wie man sie in der Firma aus ökologischen Gründen nicht verwendet, liegt zuoberst. Darin ein uraltes Schriftstück, mehrere Bögen, mit einer modernen Büroklammer zusammengehalten. Und beschrieben in Sütterlin. Gudrun entziffert mühelos:
Ein Teil Gelbe Rüben
Ein Teil Pastinaken
Zwei Teile Weißkohl
Ein Teil Winterzwiebeln
Ein Teil Lauch (das Weiße)
Liebstöckel nach Bedarf …
Es ist eine gestochen schöne Schrift, so wie Gudruns Großmutter sie mit der Frakturfeder schrieb – sogar noch nach dem Krieg in ihrer privaten Post. Die neue Schreibschrift mochte sie nicht mehr lernen, behalf sich lieber ab und an mit einer Schreibmaschine. Gudrun zittert vor Verblüffung. Sütterlin hat sie in der Grundschule gelernt. Und zwar mit Begeisterung, denn so konnte sie die Briefe ihrer Großmutter heimlich mitlesen.
Alles zerkleinern. Kohl, Lauch und Winterzwiebeln in etwas Butterschmalz anschmoren …
Könnte das Onkel Hermanns Rezept sein? Dafür sprechen die teils kaum noch gebräuchlichen Zutaten: Winterzwiebel, Liebstöckel … und der überkommene Ausdruck Gelbe Rüben für Karotten. Aber warum hat nicht er, sondern Großmutter Luise sie aufgeschrieben? Und warum hält Rolf die Blätter unter Verschluss? Der lässt sogar Hans-Bernward und die kleine Rosenkranz all die Tage vergebens danach suchen!
Gudrun fasst tiefer ins Schließfach. Da liegt noch ein dünner DIN-A4-Briefumschlag mit tschechischer Marke, adressiert an Rolfs Privatanschrift. Abgeschickt von einer Anna mit unleserlichem Nachnamen. Drinnen die notariell beglaubigte Kopie eines Mietvertrags in unbeholfenem Deutsch.
Von einer Küche ist dort die Rede und einem Pflanzgarten. Dafür ist ein Mietpreis von monatlich sage und schreibe zehntausend Euro vereinbart. Eine versteckte Gage für diese Anna? Als Vertragspartner ist eine Firma in Cheb, Majova, angegeben. Und der Eigentümer des Anwesens heißt … Irgendwo muss doch ein Name stehen, ein Kontoinhaber, wahrscheinlich diese Anna Soundso …
Prestissimo finale: Bobbedobbedobbedo … Griegs Kobolde wirbeln umeinander, stolpern übereinander – genauso wie Gudruns Finger durch die Vertragsseiten … Kontoinhaber ist, im Kleingedruckten findet sie es: Rolf P. Westenberger. – Er schließt im
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