Nebenan: Roman
gehalten. Sie wollten Martin erleben lassen, was man für Geld nicht kaufen kann, und ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn er glaubte wirkliche Freunde gefunden zu haben.
Woran sie nicht gedacht hatten, war, dass sie vielleicht selber bestechlich waren. Es hatte immer das Problem gegeben, für ihre Spielabende einen Platz zu finden, an dem man sie in Ruhe ließ und wo sich am besten auch noch ein großer Tisch befand. Bei normalen Wohnverhältnissen kam es zwangsläufig zu Problemen, wenn eine Gruppe störrischer Teenager glaubte, ein- bis zweimal die Woche für eine halbe Nacht das ausschließliche Nutzungsrecht für den Küchentisch zu haben. Bei Martin war das nie ein Problem. Sie hatten den ganzen Partykeller für sich allein und obendrein gab es stets noch reichlich Chips, Cola und all die anderen Kalorienbomben, die sie in den unglaublichsten Mengen zu verdrücken pflegten, während ihre Helden die härtesten Entbehrungen erduldeten. Das war ein Luxus, den sie nie gekannt hatten und dem sie zunehmend verfielen.
Nach vier Wochen sprach niemand mehr davon, Martin – im wahrsten Sinne des Wortes – ins Messer laufen zu lassen, und nach drei Monaten hätte es jeder mit der Freundesclique zu tun bekommen, der versucht hätte Martin fertig zu machen. Till wusste nicht, wann genau es geschehen war, dass sie ihre Meinung änderten. Auf seine stille, unaufdringliche Art hatte es Martin geschafft, alle kindlichen Vorurteile unbedeutend werden zu lassen. Natürlich war es angenehm, von seinem Geld zu profitieren und in der Villa zu leben, die sein Vater ihnen als private Studentenförderungsmaßnahme zur Verfügung stellte, aber es wäre falsch gewesen, zu sagen, Martin hätte sie gekauft.
Zwischen Martin und Gabriela hatte eben noch Almat gesessen. Er kämpfte von ihnen allen den erbittertsten Kampf, um die Ui Talchiu zusammenzuhalten. Deshalb war er jetzt auch nicht da, sondern bereitete sich auf das festliche Ritual vor, das zum Höhepunkt des Abends werden sollte.
Almat war als Erster von ihnen auf einem Mittelaltermarkt gewesen und seine Begeisterung hatte auch in ihnen das Feuer geweckt. Nach sieben Jahren, die sie als Rollenspieler um ihren Spieltisch versammelt und die phantastischsten Abenteuer in ihrer Vorstellung erlebt hatten, hatte er sie in eine verzauberte Wirklichkeit geführt. Sie waren in eine Welt der Lagerfeuerromantik, ausgeflippter Aussteiger, Feuerspucker und moderner Bänkelsänger, Gladiatoren und Vaganten getreten. Die Welt des Hilbert Giller, des größten Organisators mittelalterlicher Märkte in Nord- und Mitteldeutschland. Er hatte es geschafft, aus Träumen ein Geschäft zu machen, und seine Märkte waren Attraktionen, die Zehntausende anlockten. Tagsüber wälzten sich Touristenströme über seine Festwiesen, nachts aber verwandelten sich seine Märkte in Reservate für Träumer, in denen die Künstler die Masken fallen ließen, miteinander feierten und in seltenen Momenten offenbarten, was nicht für die Augen der Massen bestimmt war.
Almat hatte die Ui Talchiu gegründet, um sie als Gruppe an die Gillermärkte zu verkaufen und ihnen so einen festen Platz unter dem modernen Gauklervolk zu verschaffen. Er hatte mit dem Clan in Regen und Schnee eine Schwertkampfchoreographie einstudiert, damit sie auf den Märkten im Sommer auch etwas zu bieten hatten, und er hatte mit Giller gefeilscht und gerungen, damit sie es nicht wie andere Neulinge ohne Gage taten. Die Organisation und all die tausend Kleinigkeiten, um die alle anderen sich herumdrückten, hatten stets auf seinen Schultern geruht. So war es auch in dieser Nacht. Während der Clan zechte, bereitete Almat den Rahmen, der diesen Abend unvergesslich machen würde, wenn das Schauspiel glückte.
Gabriela, Rolf, Martin und Till sollten die vier Elemente verkörpern und jeder mit genau festgelegten Worten die Geister der Ahnen begrüßen. Till zog noch einmal den zusammengefalteten Zettel aus dem Stiefelschaft und überflog seinen Text. Er hatte es schon in der Grundschule gehasst, Gedichte auswendig zu lernen, und sich regelmäßig blamiert. Aber all seine Versuche, sich um die festliche Kulthandlung herumzudrücken, waren vergebens gewesen. Almat und die Mehrheit hatten beschlossen, dass sie als die Gründer des Clans der Ui Talchiu das Ritual durchführen sollten.
Eine Windböe fuhr heulend durch den nahen Wald. Jemand warf ein dickes Scheit in die Glut und eine Fontäne glühender Funken stob in den dunklen Himmel hinauf,
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