Nebenan: Roman
Heiligensargs waren zum Glück einem Reiseführer zu entnehmen gewesen.
Der Erlkönig entspannte sich und ließ seine Fingerknöchel knacken. Jetzt würde sie nichts mehr aufhalten.
Ein neuer Blitzsturm ging über dem Fahrzeug nieder. Die Augen der Heiligenfiguren ringsherum begannen zu glühen, als wollten sie jeden Moment zum Leben erwachen.
Blau presste sich winselnd neben das Gaspedal, während Gabi eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte und immer wieder murmelte: »Ich will das alles nicht sehen. Heilige Jungfrau! Ich will das …«
Die Tür an der Fahrerseite ging auf und Joe schwang sich auf seinen Sitz. Ihm standen sämtliche Haare zu Berge, und als er das Lenkrad berührte, hörte man es leise knistern. Seine Augen waren starr auf das hohe Portal am Ende des Mittelgangs gerichtet. »Befehl ausgeführt«, meldete er mit monotoner Stimme. »Was nun, Chef?«
»Bring uns hier raus!«
Der Motor des Schützenpanzers röhrte auf und das schwere Fahrzeug rollte knirschend die Treppen zum Hochaltar hinab. Eine Gestalt in Boxershorts mit Papstporträts tauchte aus einer kleinen Seitentür auf und blieb beim Anblick des verwüsteten Interieurs wie versteinert stehen.
»Der Küster«, murmelte Gabi und duckte sich hinter das Armaturenbrett. »Hoffentlich hat er uns nicht gesehen.«
Unmittelbar im Hauptportal ging ein Blitz nieder und stanzte für einen Augenblick den Schattenriss eines Mannes in wehendem Mantel aus der Dunkelheit.
Der Panzerwagen hatte fast das niedergewalzte Eingangstor erreicht, als eine Frau mit wehenden roten Haaren den Weg versperrte. Sie stützte einen taumelnden Mann, aus dessen gepuderter Perücke dünne Rauchschwaden stiegen. Cagliostro und Mariana! Offenbar hatte der falsche Graf gerade einen Blitzschlag abbekommen. Im Licht der Scheinwerfer sah man etliche Brandflecken auf seinem weiten Gehrock, der sämtliche Knöpfe eingebüßt hatte.
Der Graf streckte einen Arm vor, stellte sich dem Schützenpanzer in den Weg und schrie etwas, doch seine Worte waren hinter dem dicken Panzerglas der Führerkabine nicht zu verstehen.
»Soll ich ihn platt machen, Chef?«, fragte Joe mit monotoner Stimme.
Der Erlkönig nickte. »Wenn er uns nicht aus dem Weg geht, hat dieser Verrückte sein Schicksal selbst gewählt.«
Ohne eine Miene zu verziehen hielt Joe auf den Grafen zu.
Cagliostro fuchtelte jetzt wild mit den Armen. Er schrie etwas und machte erst im letzten Moment einen Hechtsprung zur Seite. Im selben Augenblick schossen rings um den Dom herum dicke Stahlträger aus dem Boden und bildeten eine Barriere, die nicht einmal der Schützenpanzer überwinden konnte.
Der Erlkönig fluchte. Um einen Gegenzauber zu wirken, musste er aus der Führerkabine heraus. Verdammter Italiener! Hätte er diesem Idioten nur nicht gezeigt, wie man Magie wirkte. Wütend stieß der Albenfürst die Beifahrertür auf.
»Du hast meine Idee gestohlen!« Cagliostros Stimme überschlug sich vor Zorn. Der Zauberer trat hinter einer der Stahlstreben hervor.
»Du warst doch nicht einmal in der Lage durch das Tor zu kommen, du triefäugiger Einfaltspinsel. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, läge das Elfenbein noch immer im Dom.«
»Ich dachte, du interessierst dich nicht mehr für unsere Mission und wolltest stattdessen lieber die Welt verbessern, du egomanisches Langohr!«
»Du solltest das Denken besser den Pferden überlassen, denn die haben einen …« In der Ferne erklangen Martinshörner.
»Könntet ihr beiden Machos euren Streit vielleicht auf später vertagen oder legt ihr es darauf an, hier vor dem verwüsteten Dom verhaftet zu werden?«, mischte sich Mariana ein.
»Sollen die Gendarmen nur kommen! Ich werde sie in einen Haufen schieläugiger Frösche verwandeln«, ereiferte sich Cagliostro.
Mit einer Handbewegung und einem geflüsterten Wort der Macht ließ der Albenfürst die Stahlpfeiler wieder im Boden versinken.
Der Graf schnippte mit den Fingern und ringsherum stiegen Flammenwände empor. »Entweder gehen wir zusammen oder gar nicht! Ich werde nicht zusehen, wie du die Frucht meiner Arbeit stiehlst. Außerdem wirst du unsere Hilfe brauchen. Mariana kann uns ein Tor nach Nebenan öffnen.«
Der Erlkönig maß das Mädchen mit missmutigen Blicken. So weit käme es noch, dass er auf so eine angewiesen wäre! Aber vorerst war es klüger, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Steigt in den Panzerwagen und wir verschwinden!«
Cagliostro lächelte zufrieden und streckte ihm versöhnlich die Hand
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