Nebenan: Roman
beschäftigt?«
»Natürlich habe ich in die Bücher geschaut.« Der Graf grinste selbstzufrieden. »Und weißt du was? Die meisten Leute, die sich zu meiner Zeit für sehr wichtig gehalten haben, kennt heute kein Mensch mehr!«
»Das ist natürlich das Wichtigste, was man über dieses neue Zeitalter wissen muss«, entgegnete der Erlkönig ironisch. »In Anbetracht deiner besonderen Fähigkeiten würde ich vorschlagen, du übernimmst das Kommando über das Zentrum. Die Truppen an der Palisade gehören dir!«
Cagliostro sah ihn mit strahlenden Augen an. »Ich darf einer der Feldherren sein?«
»Oh, nicht nur irgendeiner. Du wirst im Mittelpunkt der Schlacht stehen.« Der Erlkönig musste sich sehr beherrschen, um nicht verräterisch zu grinsen.
»Majestät?« Ein Albenspäher in schneeweißer Lederkleidung war wie aus dem Nichts aufgetaucht. »Der Junge mit dem Stein ist hier.«
»Sehr gut! Ihr wisst, was zu tun ist!«
*
Till war einem Stoßtrupp zugeteilt worden, der feststellen sollte, ob die Dunklen Späher ausgesandt hatten. Gemeinsam mit Wallerich und Rolf begann er den Aufstieg zum Drachenfels, oder besser gesagt, sie stürmten zunächst die Talstation der Zahnradbahn. Es war totenstill unter den hohen Deckenbögen des Bahnsteigs. Kein Fahrgast drängte sich vor den Bahnwagen, kein Schaffner zeigte sich auf dem Bahnsteig. Auch die beiden Fahrkartenschalter waren verwaist.
Till dachte, dass es eine Art von Stille gab, die genauso bedrohlich war wie das Rattern eines Schnellzugs, dem man gefesselt auf den Schienen liegend lauscht.
Sie blickten hinaus auf das Gleisbett, das tief eingeschnitten zwischen den Trachytfelsen hinauf zum Berggipfel führte. Ein ganzes Stück weiter oben sah man einen Zug, der auf offener Strecke stehen geblieben war.
Till leckte sich nervös über die Lippen. Was ging hier vor? Wo waren die Bewohner der kleinen Stadt? Warum erschien niemand, um das Restaurant »Fliegender Holländer« zu öffnen? Selbst über den Anblick eines Streifenwagens, der anrückte, um festzustellen, was das für Volk war, das sich unter den hohen Straßenbrücken versammelte, wäre er froh gewesen.
Ein leiser Pfiff ließ Till herumfahren. Wallerich deutete auf die Spiegeltür neben den Fahrkartenschaltern. Der Heinzelmann drückte sich neben der Tür an die Wand und gab dem Studenten ein Zeichen, auf der anderen Seite in Position zu gehen.
Nun winkte Wallerich Rolf. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle der blonde Krieger einfach die Tür eintreten, doch dann drehte er schlicht am Türgriff und trat ein.
Till und Wallerich stürmten ihm nach, die Schwerter zum Schlag erhoben. Trotz der bedrohlichen Stille musste der Student plötzlich schmunzeln, denn die Waffe des Heinzelmanns hatte ungefähr die Abmessungen eines Steakmessers.
Niemand stellte sich den Dreien entgegen. Schon wollten sie kehrtmachen, als Wallerich auf einen Fuß deutete, der hinter einem Rolltisch hervorragte. Vorsichtig pirschten sie näher und fanden eine Frau um die vierzig. Sie lag reglos auf den Boden gestreckt, unter sich eine Matratze aus zerfledderten Fahrplanheftchen und Touristenbroschüren. Zwei dicke Aktenordner dienten ihr als Nackenstütze. Ihre Brust hob und senkte sich in langsamem Rhythmus.
Till griff nach ihrer Hand und strich leicht darüber. »Hallo?«
Die Frau reagierte nicht.
Etwas lauter wiederholte er seinen Ruf. »Hallo? So hören Sie doch!«
Die Schlafende reagierte immer noch nicht. Jetzt kletterte ihr Wallerich auf die Brust, hielt sich an ihrem Hemdkragen fest und hob vorsichtig eines ihrer Augenlider. Dann stieß er einen leisen Fluch aus. »Zauberschlaf! Sie haben die böse Fee aus Dornröschen für ihre Sache eingespannt! Deshalb haben wir in der ganzen Stadt noch niemanden gesehen.«
»Die böse Fee?«, echoten Till und Rolf wie aus einem Munde.
»Ihr werdet doch wohl das Märchen kennen!« Wallerich kletterte von der Brust der Schlafenden herab. »In einer Variante des Fluchs braucht man nicht einmal eine Spindel, damit die allgemeine Müdigkeit um sich greift. In gewisser Weise ist das ganz gut, dann gibt es wenigstens keine überflüssigen Zeugen für das, was heute passieren wird.«
»Und warum hat uns der Fluch nicht erwischt?«, fragte Till.
Der Heinzelmann verdrehte die Augen, so als sei die Frage unglaublich dämlich. »Natürlich weil wir nicht hier waren, als der Fluch ausgesprochen wurde. Mit der bösen Fee ist es anders als mit der Schneekönigin. Bei ihrer eisigen Majestät
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