Nebenan: Roman
Wallerich rannte unverdrossen weiter. Als er den Riesen fast erreicht hatte, schrie er: »Schnapper! Pack ihn!«
Aus den dunklen Wolken segelte im Sturzflug die mürrische Möwe heran, schlug ihre Krallen in die Perücke Rübezahls und zerrte wild mit den Flügeln schlagend an seinem Haarersatz, bis er dem Riesen vor die Augen rutschte. Dieser ließ seine Keule fallen und fuchtelte verzweifelt mit den Händen herum, um die Möwe zu packen zu bekommen.
In diesem Augenblick erreichte Wallerich den Hünen. Der Heinzelmann hob seinen Hammer, der im Vergleich zu seinem riesigen Gegner wie ein Spielzeug aussah, und ließ ihn mit aller Kraft auf eine der Zehen des Riesen hinabsausen.
Rübezahl stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus und riss den Fuß hoch, um sich über die Zehen zu reiben. Darauf schien Wallerich nur gewartet zu haben. Er versetzte Rübezahl nun einen Hammerschlag auf den Fußknöchel, der den Riesen endgültig zu Fall brachte. Mit verrutschtem Haarersatz stürzte er in die Nibelungenhalle, drückte dabei eine Seitenwand ein und zerstörte das Kuppeldach. Eine wahre Flut von Redcaps ergoss sich auf seinen kahlen Schädel und verschwand in den dunklen Tiefen des klaffenden Gemäuers.
Rolf applaudierte. »Nicht gerade ritterlich, aber sehr beeindruckend. Wie hast du das gemacht?«
Wallerich zwinkerte vergnügt mit den Augen. »Hühneraugen, das ist das ganze Geheimnis. Fast alle Riesen haben empfindliche Füße. Jetzt aber los, wenn der Kerl wieder auf die Beine kommt, möchte ich nicht in seiner Nähe sein.« Der Heinzelmann schulterte seinen Zimmermannshammer und verschwand in der Höhlenöffnung, die Rübezahl bewacht hatte.
Rolf löste sein Horn vom Gürtel und gab ein Signal. Die Kämpfer in ihrer Nähe eilten herbei und gemeinsam stürmten sie den engen Tunnel, der zum Tor der Dunklen führen musste.
Der Gang, den sie betraten, war von genau der Art, wie man ihn für gewöhnlich in mittelmäßigen Fantasyromanen antrifft. Ein Durchgang, der mit reichlich verstaubten Spinnweben gefüllt war, dessen Stützbalken bedenklich knarrten und den niemand, der seine Sinne noch beisammenhatte, freiwillig betreten hätte. In erstaunlichen Windungen führte der Tunnel in weitem Bogen um die Nibelungenhalle herum. Und obwohl er so schmal war, dass ein einziger Krieger ausgereicht hätte, um ihn gegen eine ganze Armee zu verteidigen, stießen sie auf keinerlei Widerstand.
Je tiefer sie in den Tunnel vordrangen, desto unwohler fühlte sich Till. Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu. Zugegebenermaßen, die Definition von »rechten Dingen« musste in Anwesenheit von Walküren, Riesen und zaubernden Schneeköniginnen vielleicht noch einmal neu durchdacht werden, aber dass man keine Anstalten machte, sie hier im Tunnel aufzuhalten, konnte eigentlich nur heißen, dass man sie hier haben wollte.
»Wallerich?« Tills Stimme wurde in Echos von den Wänden des Gangs zurückgeworfen. Irgendwo lösten sich Steine und fielen polternd von der Decke.
»Leise!«, zischte der Heinzelmann. »Wer immer hierfür verantwortlich ist, hat sich einen Dreck um TÜV und Bergbauverordnungen geschert. Ein Skandal ist das!«
»Könnte es sein, dass wir gerade in eine Falle tappen?«
Wallerich blieb stehen. »Wie kommst du darauf?«
»Es geht zu leicht!«
»Du meinst also, mein Kampf mit dem Riesen sei eine Kleinigkeit gewesen?«
»Nein, so meine ich das nicht …«, wandte Till ein. »Es ist… «
»Das war alles andere als leicht! Du warst Zeuge, wie überlegener Intellekt über von einem walnussgroßen Hirn gesteuerte Muskelmassen triumphierte!«
Till betrachtete den Heinzelmann und überlegte flüchtig, dass wenn der Schädel Wallerichs von innen nicht größer war als von außen, sein Hirn eigentlich auch kaum mehr als Walnussgröße haben konnte. Der Student hütete sich jedoch diesen Gedanken auszusprechen. »Du meinst also, es ist alles in Ordnung?«
»Es ist der Lauf der Dinge, dass die Dunklen verlieren, wenn sie gegen uns Krieg führen. Sie haben es schließlich auch nie geschafft, in einer Samhaimnacht eines unserer Tore zu erobern, und das, obwohl sie größtenteils von Heinzelfrauen verteidigt wurden!« Wallerich hob den Arm und blieb abrupt stehen. Er hatte den Ausgang des Tunnels erreicht.
Vor ihnen lag ein kleines, künstlich geschaffenes Tal, mit einem flachen See und moosbewachsenen Steilklippen. Ein mächtiger, aus Beton gegossener Drache kauerte gegenüber dem Höhlenausgang. Hinter ihm gab es eine
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