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Nebenan: Roman

Nebenan: Roman

Titel: Nebenan: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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hatten es für eine Halluzination gehalten. Es war ein kleiner Kerl gewesen, auf den die Beschreibung der Dryade zutraf. Kniebundhosen und eine Schiebermütze. Und die Frau, zu der er gesprochen hatte … Was hatte er gesagt? Mit Freuden würde ich den Rest meiner Tage in einer modrigen Esche verbringen, dürfte ich zur Nacht mein Lager mit dir teilen . Das passte zu einer Dryade!
    »Du kannst nicht mehr sehen, woran du zu glauben verlernt hast, Geliebter. Deshalb vernimmst du nur noch meine Stimme und selbst diese erscheint dir wie Spuk oder Wahn.«
    Till blickte zurück. Der Baum, vor dem die Rose gelegen hatte, war eine Esche!
    »Ich hatte dich für einen Träumer gehalten«, sagte die Stimme traurig, »aber ich sehe, auch du brauchst einen Beweis, etwas, das man mit Händen greifen kann, um zu glauben. Komm mit mir zu meinem Baum.«
    Er war so durcheinander, dass er willenlos der Aufforderung nachkam. Halb hoffte er, dass dies alles nur ein verrückter Traum war, aus dem er jeden Moment erwachen würde, und doch war dies alles viel zu real. Jedenfalls hatte er nie zuvor mit so wachen Sinnen geträumt.
    Direkt vor seinen Füßen brach ein Eschenschössling durch das welke Laub und wuchs auf Armeslänge aus dem Boden. An den Spitzen der zarten Ästchen bildeten sich Knospen, aus denen schon im nächsten Augenblick kleine, grüne Blätter hervorbrachen.
    »Brich den Schössling und nimm ihn an dich. Er ist mein Geschenk für dich«, sagte die traurige Frauenstimme. »Er ist der Beweis, dass es Wunder gibt, wenn man bereit ist, an sie zu glauben. Weil Bäume in deiner Vorstellungswelt mehr Platz haben, als du mir einräumen magst, kannst du den Schössling sehen, obwohl es ihn nicht geben dürfte. Wenn du es schaffst, eines Tages hinter die Wirklichkeit , die dir dein gefesselter Verstand vorgaukelt, zu blicken und du wieder mit den Augen eines Kindes zu sehen vermagst, dann wirst du begreifen. Ich habe in dir etwas vermutet, das du schon nicht mehr bist. Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe und mich ungerufen in dein Leben drängte. Du bist deinem Professor Mukke schon ähnlicher, als du glaubst. Ich kannte ihn, als er so alt war, wie du jetzt bist. Auch er schien ein Träumer zu sein, aber er hat sich entschieden, den Glauben an Wunder in sich zu begraben, weil man dann in eurer Welt leichter vorankommt. Jetzt stehst du an diesem Scheideweg und eine Wahl kannst nur du allein treffen. Lebe wohl, mein Geliebter.«
    Till rieb den dünnen Ast mit den frischen Trieben zwischen den Fingern. Er war ganz real und doch konnte es ihn nicht wirklich geben! Kein Schössling spross so schnell, dass man ihm beim Wachsen zusehen konnte! Und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit! »Warum tust du das alles?«, fragte er leise, doch die Stimme antwortete ihm nicht mehr.
    Er ging zu der Esche, klopfte an das Holz des Baumes und blickte hinauf in das verzweigte Geäst. Dort oben saß das Eichhörnchen und beobachtete ihn stumm.
    »Kennst du die Dryade?«
    Keine Antwort. Er fror. Die Stimme hatte ihn verwirrt, ja geängstigt und doch fühlte er sich jetzt, da sie verstummt war, so einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Sie hatte ihn Liebster genannt, mit so zärtlichen Worten von ihm gesprochen wie nie eine andere in seiner Welt. War er wirklich einem Wunder begegnet und hatte sich nur nicht darauf eingelassen? Zumindest in einem hatte die Stimme Recht: Er war kein Träumer mehr!

6

    Die Uhr in der unteren rechten Ecke des Computerbildschirms zeigte 21.17. Es war an der Zeit, aufzubrechen! Der Erlkönig schloss das Fahrschulprogramm und sah in Richtung der Treppe, die hinauf zum Schlafzimmer führte. Er hatte Cagliostro über die Geheimnisse des Koffers unterrichtet. Es war so etwas wie eine Probe gewesen. Ein letzter Versuch. Wie erwartet hatte sich der Graf jedoch in erster Linie für den Ring interessiert.
    Der Elbenfürst schaltete den Computerbildschirm aus. Dass es noch einen zweiten Ring gab, hatte er dem geilen Bock verschwiegen. Cagliostro hatte sehr interessiert getan und erklärt, er würde sich die Unterlagen oben näher ansehen. Dann hatte man aus dem Zimmer hinter der Treppe italienische Arien gehört. Zum Glück dauerte das nicht lange. Er und Mariana hatten sich sehr schnell auf nonverbale Kommunikation verlegt.
    Der Erlkönig griff nach den Autoschlüsseln auf der Anrichte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er deutete eine spielerische Verbeugung in Richtung der Treppe an. »Arrivederci, Giuseppe Balsamo. Von

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