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Nebenan: Roman

Nebenan: Roman

Titel: Nebenan: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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und griff nach der Blume. Der Rosenstängel war noch feucht. Lange konnte sie hier noch nicht liegen. Jemand hatte sorgfältig alle Dornen entfernt.
    Unruhig blickte der Student zurück zum Tor, durch das er gekommen war. Die Sonne war nur ein blasser Fleck, der tief neben der grauen Silhouette des Krankenhauses hing. Bald würde es dämmern. Und er war immer noch allein … Hatte er sich die Stimme am Morgen vielleicht doch nur eingebildet? Oder gab es Gespenster?
    Ein raschelndes Geräusch ließ ihn herumfahren. Ein Eichhörnchen hockte vor dem Baum hinter dem Grabstein und blickte ihn mit neugierigen, schwarzen Augen an.
    Till zuckte mit den Schultern. »Tut mir Leid, wenn du Nüsse willst, bist du an den Falschen geraten.«
    Das Eichhörnchen legte den Kopf schief, als habe es ihn genau verstanden. Erstaunlich, wie ausdrucksvoll das Gesicht eines Tieres sein konnte. Es schien auf etwas zu warten.
    »Ich hoffe, du zählst keine Gespenster zu deinen Verehrern … Stell dir vor, es gibt jemanden … nein, ich sollte wohl besser etwas sagen, das verhindern will, dass ich hierher komme.« Till lächelte traurig. »Jetzt rede ich schon mit Eichhörnchen. Es ist weit gekommen mit mir … Auf der anderen Seite scheinst du ein guter Zuhörer zu sein. Kennst du das Gefühl verloren zu sein? Vielleicht ist es so, wie wenn einem mitten im Winter die Nussvorräte ausgehen. Man weiß, dass viele hungrige, kalte Tage vor einem liegen. Man kann davor nicht weglaufen … Vielleicht wird man die Zeit überstehen. Vielleicht ist es aber auch besser, nach einem Fuchs Ausschau zu halten … Kennst du diesen süßen Schmerz, der jede Freude zu Asche werden lässt? Das Gefühl, fortlaufen zu müssen, doch egal wohin man sich auch wendet, sich selbst kann man niemals entkommen …«
    Das Eichhörnchen sah ihn noch immer aufmerksam an. »Du bist ein wirklich ausdauernder Zuhörer, kleiner Freund. Ich wünschte, es gäbe einen Menschen, mit dem ich so reden könnte wie mit dir. Weißt du, alle wollen immer gleich ihre Meinung sagen und hören einem gar nicht bis zum Ende zu …«
    »Du bist nicht so allein, wie du glaubst«, sagte eine leise, melodische Stimme.
    Tills Hände begannen zu zittern. Er wusste, dass er auf dem Friedhof allein war. Dennoch blickte er sich um. Es war jetzt fast dunkel. Dunst stieg zwischen den schwarzen Bäumen auf, kroch über das tote Laub und sammelte sich in den Bodensenken. Hinter dem Friedhofszaun eilte ein Mädchen mit rotem Mantel in Richtung des Archäologischen Instituts. Sie hatte ihn gewiss nicht bemerkt und war auch viel zu weit fort, um ihm etwas zugeraunt zu haben. Sie verschwand hinter den hohen Büschen an der Nordmauer. Außer ihr war niemand zu sehen.
    Als Till sich umdrehte, war selbst das Eichhörnchen verschwunden. Er begann wahnsinnig zu werden! Das war die einzige Erklärung. Er hörte Stimmen, die sonst niemand vernahm, sprach mit Tieren und trieb sich bei Einbruch der Dämmerung auf Friedhöfen herum. Das war nicht mehr normal!
    »Ich wünschte, du könntest mich sehen, und zugleich habe ich auch Angst davor«, hauchte eine Stimme in sein Ohr. »So oft schon wollte ich dich ansprechen und habe es doch nie gewagt.«
    Till presste sich die Hände auf die Ohren. Die Stimme hatte einen merkwürdigen Akzent und gehörte zweifellos zu einer Frau. Er hatte einmal davon gehört, dass es eine Hirnfehlfunktion gab, bei der man tatsächlich glaubte Stimmen auf sich einreden zu hören. Aber dass es schüchterne, freundliche Frauenstimmen waren, hätte er nicht gedacht.
    »Bitte hab keine Angst, Liebster. Dich zu sehen ist für mich so kostbar wie Maimorgentau auf meinen Blättern. Jeden Tag sehne ich mich nach deinen Besuchen.«
    »Besuchen?« Jetzt war es wirklich genug. »Was heißt hier Besuche? Sind wir denn nicht ständig vereint? Ich meine, du bist doch in meinem Kopf … nicht wahr?«
    »Nichts wünschte ich mehr. Gewiss bist du in meinem Herzen, aber wie kannst du an mich denken, wo ich doch so lange gezögert habe mich zu offenbaren. Hast du es gespürt, wenn ich um dich war? Hast du am Ende gar meine stummen Liebesschwüre gehört?«
    Till hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wenn er die Stimme recht verstand, dann war er in sich selbst verliebt und seine weiblichen Anteile flirteten gerade mit ihm. Er schluckte. Von dieser Art Wahnsinn hatte er noch nie gehört! Sein zukünftiger Therapeut würde sicher eine Menge Spaß mit ihm haben. Aber warum hatte

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