Nebenan: Roman
er nie etwas von seinem Wahnsinn gemerkt? Konnte man so plötzlich den Verstand verlieren? War es der Schock nach dem Gespräch mit Mukke? Er musste Gewissheit haben.
»Wie lange kennen wir uns eigentlich schon?«
»Es war im März vor drei Jahren, als ich zum ersten Mal auf dich aufmerksam geworden bin. An jedem sonnigen Tag hast du dort hinten auf der Bank gesessen und du bist immer allein gekommen. Das war es, was mir zuerst aufgefallen ist. Nur wenige Besucher kommen stets allein in diesen Hain. Und du sahst irgendwie traurig aus … Einsam. Ich habe in dir eine verwandte Seele gespürt.«
»Eine verwandte Seele«, wiederholte Till verblüfft. Entweder hatten seine weiblichen Anteile einen ausgeprägten Sinn für Ironie oder … Sein Blick wanderte über die alten Grabsteine, die als Schatten im Zwielicht ragten. »Kann ich dich nur hier treffen?«, fragte er unsicher.
»Nein«, entgegnete die Stimme entschieden. »Ich bin auch in den Vorlesungen bei dem netten Professor mit dem Bart an deiner Seite. Aber viel weiter als hundert Schritt kann ich nicht fort von hier.«
Tills Gedanken schlugen Purzelbäume. Die Stimme versuchte ihm klar zu machen, dass sie an einen Ort gebunden, also wohl so etwas wie ein Geist war. Aber Geister gab es nicht! Wenn er sich also mit Gespenstern unterhielt, musste er wohl doch verrückt sein. Aber wozu die Sache mit dem Friedhof? Sein abgespaltenes, weibliches Bewusstsein schien selbst vor den absurdesten Erklärungen nicht zurückzuschrecken, um ihm geistige Gesundheit vorzugaukeln. Doch so schnell ließ er sich nicht reinlegen! »Warum hast du mich heute Morgen bedroht und mit einer Männerstimme gesprochen? Da du mich gut kennst, hätte dir doch klar sein müssen, dass ich auf jeden Fall wieder auf den Friedhof käme, um mein Mädchen zu treffen.«
»Wallerich! Verdammter Mistkerl.«
»Wallerich, nein … das wird jetzt etwas zu viel.« Eine weitere Persönlichkeit in sich zu beherbergen … Till fragte sich, wer wohl noch alles durch seinen Verstand spukte. »Wer soll dieser Wallerich sein?«
»Ein eifersüchtiger Heinzelmann«, kam die Antwort, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. »Er ist ein widerlicher, eingebildeter und aufdringlicher Kerl mit Schiebermütze und Kniebundhosen, der mir schon eine ganze Weile nachstellt. Ich wünschte, er würde endlich einsehen, dass ich nur dich liebe!«
»Und du … Bist du eine Heinzelfrau oder wie immer man das nennen mag?«
Ausgelassenes Gelächter erklang. »Eine Heinzelfrau … Das ist gut! Ich bin eine Dryade. Du musst wissen, Wallerich ist nicht ganz normal. Normalerweise haben Heinzelmänner nichts mit Dryaden. Ich weiß auch nicht, welcher Dämon ihn reitet.«
Till stand auf. Das alles wurde ihm zu viel. Nicht nur dass sich in seinem Hirn mehrere Märchenfiguren eingenistet hatten und offenbar miteinander rivalisierten. Jetzt erklärten sie sich auch noch gegenseitig für verrückt! Er würde gehen. Wenn er sich weit genug von diesem Friedhof entfernte, hatte wenigstens diese Dryade in seinem Kopf keine Macht mehr über ihn. Falls es stimmte, was sie gesagt hatte.
»Warum läufst du fort? Habe ich dich erschreckt?« Die Stimme folgte ihm auf dem Weg zum Friedhofstor.
»Nein, ich unterhalte mich täglich mit Hexen, Riesen … und natürlich mit mir selbst! Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde offenbar wahnsinnig, aber sonst ist alles in bester Ordnung mit mir.«
»Du glaubst mir nicht.« Die Stimme klang so enttäuscht, dass Till stehen blieb und sich noch einmal umblickte. Natürlich war niemand zu sehen.
»Oh doch, ich glaube schon, dass du auf irgendeine Weise existierst. Schließlich bist du unüberhörbar. Aber warum müsst ihr ausgerechnet Märchenfiguren sein? Ich bin ein erwachsener Mann. Wenn ich schon Stimmen hören muss, warum können es dann nicht Mata Hari oder Kleopatra sein … Ich meine Heinzelmännchen und Dryaden, das sind Kindergeschichten.« Etwas streifte seine Wange. Die Berührung war eindeutig körperlicher als ein Luftzug.
»Ich weiß nicht, von welchen Frauen du sprichst. Ich fühle nur dein wundes Herz. Du trägst eine Traurigkeit mit dir, die dich einhüllt wie ein dunkler Schleier. Du hältst mich nur für eine Stimme? Glaub mir, ich bin genauso wirklich wie du!«
Wieder spürte Till eine sanfte Berührung an der Wange. War sein Hirn so durcheinander, dass nun auch noch sein Tastsinn verrückt spielte? Er dachte an die Erscheinung vor dem Pult von Grünwald. Die meisten
Weitere Kostenlose Bücher