Nebenan: Roman
einmal die Röntgenaufnahmen! Läge nicht die Kette aus Titan in seinem verschlossenen Schreibtisch, er würde alles nur für einen verrückten Traum halten.
Der Doktor schwang die Beine über die Bettkante. Der hölzerne Fußboden war kühl. Es fröstelte ihn. Im Nachbargarten jaulte ein Husky seinen Liebeskummer über die hübsche Colliehündin zum Himmel, die jeden Tag in der Mittagszeit am Grundstück vorbei spazieren geführt wurde. Salvatorius verhielt mitten im Schritt. Was waren denn das für Anwandlungen? Gestern Nacht keine abbekommen zu haben hatte ihn offenbar tiefer getroffen als an anderen Wochenenden.
Der Zahnarzt lachte. Jetzt machte er sich schon Gedanken über verliebte Hunde. So was Dämliches! Er sollte mit dem Brüten aufhören, die Kette aus seinem Schreibtisch in den Müll werfen und den ganzen Vorfall einfach vergessen. Das endlose Grübeln brachte doch nichts! In den letzten Tagen war er nur noch dann wirklich er selbst gewesen, wenn er mit äußerster Konzentration zusah, wie sich sein Bohrer tiefer und tiefer in einen Backenzahn grub.
Mit dem Beschluss, den Vorfall zu vergessen, besserte sich seine Laune deutlich. Er schlenderte in die Küche, brachte seine italienische Espressomaschine dazu, sich unter ekstatischem Zischeln in eine winzige Tasse zu ergießen, und griff wahllos in den Kühlschrank, um sich eine Kleinigkeit zum Frühstück zu genehmigen. Am Nachmittag gab es ein Singletreffen in einem eleganten Bonner Bistro. Das war die Gelegenheit, die Niederlage von gestern Nacht mit einem erfolgreichen Flirt wieder wettzumachen. Er dachte an hübsche Mädchen in engen Kleidern und den bitteren Geschmack von Parfüm auf seinen Lippen, den er spüren würde, wenn er sie auf einem Hinterhof zärtlich am Hals liebkoste. So sehr war er in seinen Gedanken gefangen, dass er gar nicht bemerkte, wie er nebenbei zu seinem Espresso ein Päckchen rohes Mett frühstückte.
*
Till konzentrierte sich ganz auf das verstaubte Spinnennetz über dem obersten Küchenregalbrett, auf dem sich alte Zeitungen und leere Kaffeedosen stapelten. Er war noch in der Nacht bei Neriella gewesen und sie hatte die Drohung Lallers sehr ernst genommen. Wie waren noch ihre Worte gewesen? Er ist wie Eulengewölle, ein Konzentrat von unverdautem Konservativismus der Heinzelmännchengesellschaft. Offensichtlich hatte Neriella mit großer Begeisterung den Reden während der APO-Zeit gelauscht und etliches davon in ihr Vokabular übernommen. Doch davon abgesehen hatte sie sicherlich Recht. Sie schien sich große Sorgen zu machen. Früh am Morgen waren sie über den kleinen, nebelverhangenen Friedhof geschlendert und hatten sich beraten. Was die Heinzelmänner tun würden, vermochte auch die Dryade nicht vorherzusagen, doch hatte sie dringend davon abgeraten, vor ihnen davonzulaufen.
Till blickte aus den Augenwinkeln zu Martin hinüber, der am anderen Ende des Frühstückstischs saß und mit größter Sorgfalt ein gekochtes Ei schälte. Sie hatten kaum drei Sätze miteinander gesprochen und das Thema Heinzelmännchen war mit keiner Silbe angeschnitten worden. Wie zu erwarten hatten die anderen ihnen gestern nicht geglaubt, als sie vom Besuch in ihrer Garderobe berichteten.
Als Martin aufblickte, beeilte sich Till in eine andere Richtung zu sehen. Hinter seinem Freund türmte sich neben dem Spülbecken der unerledigte Abwasch von drei Tagen. Über die Teller mit eingetrockneter Tomatensauce und die Pfanne mit eingebrannten Spiegeleierresten erhob chromglänzend ein hypermoderner Wasserhahn seinen Kopf. Wie um die düstere Stimmung in der Küche zu unterstreichen, sammelte sich in seinem Edelstahlfilter Wasser, formte unsicher zitternd einen Tropfen, der stets gegen die Macht der Schwerkraft verlor und mit überlautem Platschen in das blecherne Spülbecken fiel. Es war der fünfte Wasserhahn, den sie über die Spüle montiert hatten, seit sie in die Villa Alesia eingezogen waren. Doch egal welches Modell sie wählten, es dauerte nie länger als eine Woche, bis der Hahn tropfte. Es war wie ein Fluch. Till fielen Lallers Worte ein. War es das, was sie erwarten würde, wenn sie sich ihm widersetzten? Lebenslänglich tropfende Wasserhähne?
Sein Blick wanderte hastig weiter. Gestern hätte er darüber noch gelacht. Aber nun … Neben der Küchentür hing eine billige Reproduktion von Dalis brennender Giraffe. Im Vordergrund ein hagerer, verzerrter Frauenleib, zergliedert durch aufgezogene Schubladen, und schräg dahinter, nur
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