Nebenan: Roman
würde er kein Wort mitbekommen. »Er wird zurückkehren, verlass dich darauf, Gabriela.«
Die Tänzerin lächelte spöttisch. »Du weißt, dass ich immer für Abwechslung zu haben bin.«
»Davon werden wir noch mehr bekommen, als uns lieb ist. Vielleicht solltest du vorsichtshalber keine längerfristigen Verabredungen mehr treffen.« Till knallte die Küchentür hinter sich zu und lief die Treppen hinauf zu seinem Zimmer. Er konnte es nicht begreifen. Sie alle kannten sich mehr als zehn Jahre und doch wurden sie einander mehr und mehr zu Fremden. Neriella schien ihm jetzt viel vertrauter als irgendeiner seiner alten Freunde. Und auch sie würde er bald verlieren! Der Student hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Laller seine Drohung ernst meinte. Wie viel Zeit würde noch bleiben, bis ihn die Heinzelmännchen in ihre Märchenwelt holten? Ein paar Tage? Eine Woche?
Es war paradox. Seit mehr als einem Jahrzehnt wagten sie im Geiste die verrücktesten Abenteuer. Sie hatten die Fantasywelten von DSA, AD&D und MERS durchstreift, Orks, Drachen und böse Zauberer bekämpft, ganze Nächte vor Computern verspielt und jetzt, da ihre Spielträume Wirklichkeit werden sollten, empfand Till nichts als beklemmende Angst. Dort drüben würde es keine Undone-Taste geben und wahrscheinlich auch keine rettenden Zaubertränke für Schwerverletzte. Neriella hatte ihm nicht erzählen können, was sie bei den Heinzelmännchen erwarten würde. Ihre Welt war beschränkt auf die hundert Schritte, die sie sich von ihrem Baum entfernen konnte. Sie konnte sich nicht einmal den Rhein vorstellen. So vieles hatte er mit ihr unternehmen wollen und jetzt stahl ihm ein Heinzelmann die Zukunft. Nach Lallers Worten hatte vor allem Mariana mit der Sache zu tun. Till überlegte, ob er bei der Druidin vorbeischauen sollte, um ihr den Marsch zu blasen. Er hatte sie nie sonderlich gemocht … Ach, warum sollte er jetzt seine kostbare Zeit mit ihr verschwenden? Vielleicht konnte er Martin ja überreden, ihr auf den Zahn zu fühlen? Was mochte sie auf Samhaim nur angerichtet haben? Ein Tor in eine andere Welt zu öffnen, hätte er ihr niemals zugetraut.
Till verstaute die grauen Diakästen, die neben seinem Bett standen, in einer abgewetzten Ledertasche. Es würde ihn ein beträchtliches Schmiergeld und eine Menge gute Worte kosten, um den Schlüssel zu bekommen. Aber was war das schon für ein Preis, wenn man dafür Träume zu schenken vermochte! Till wählte noch einige CDs aus dem Regal, dann machte er sich auf den Weg in einen nebelgrauen Novembersonntag.
*
Wallerich saß neben dem Tischmikrofon auf dem unbesetzten zweiten Platz und beobachtete aufmerksam den Pressesprecher des Erzbistums. Der Heinzelmann trug keinen Ring, und so war es ihm möglich gewesen, unbemerkt ins Sendestudio des WDR zu gelangen. In den Frühnachrichten hatte er zum ersten Mal vom Vorfall vor dem Dom gehört. Danach war er zu Nöhrgels Wahrscheinlichkeitskalkulator geeilt, doch vom Ältesten war keine Nachricht eingetroffen. Bis zur Mittagsstunde überschlugen sich die Meldungen über den ketzerischen Anschlag auf den Dom. Es waren die spannendsten Nachrichten an einem ansonsten weltweit friedlichen Novembersonntag. Auf der Domplatte drängten sich bereits die ersten Fernsehteams, als Wallerich das Sendestudio am Wallraffplatz aufsuchte. Seiner Erfahrung nach war dies der beste Platz, um Nachrichten aus erster Hand zu bekommen, und wie sich zeigte, hatte er sich nicht geirrt, denn hier und nicht auf dem Domplatz gab der Sprecher des Erzbistums sein erstes offizielles Statement. Es war ein junger Mann mit strenger Frisur und asketischem Gesicht. Er trug einen teuren schwarzen Anzug, gegen den sich überdeutlich der weiße Stehkragen abhob. Der Heinzelmann hätte seinen Hintern darauf verwettet, dass der Kerl von einer Jesuitenschule stammte. Obwohl sich der Radiomoderator schon seit fünf Minuten mit unangenehmen Fragen selbst übertraf, blieb der Pressesprecher gelassen. Nicht ein einziges Schweißtröpfchen zeigte sich auf seiner Stirn. Für einen Langen wirklich außergewöhnlich!
Der Moderator war ein junger, unrasierter Kerl mit kahl geschorenem Kopf, der es sichtlich noch nicht aufgegeben hatte, dem Kirchenvertreter Ärger zu machen. »Ist es richtig, Pater Anselmus, dass im Bereich des Hauptportals Rußspuren gefunden wurden, die auf starke Hitzeentwicklung hinweisen? Was können Sie dazu sagen?«
Der Priester zuckte lächelnd mit den Schultern. »Nur, dass
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