Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebenan: Roman

Nebenan: Roman

Titel: Nebenan: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
Vom Netzwerk:
als Schattenriss, eine Giraffe in Flammen vor weitem Horizont. Das Bild war vor Jahren von der Wand gefallen, die schützende Glasscheibe zersprungen. Ein Gitterwerk feiner Risse zog sich nun über Dalis Vision. Unbewusst zählte Till die Narben im Glas. Es waren dreizehn! Bestürzt wandte er den Blick ab und suchte nach einem Objekt oder einer Fläche, wo er in Frieden verweilen konnte, ohne von düsteren Omen heimgesucht zu werden.
    Als sie eingezogen waren, hatten sie die Raufaser-Tapete der Küche in einem Anflug von Übermut in emanzipiertem Lila gestrichen. Doch verblassendes Lila war keine gute Farbe an einem grauen Novembersonntag.
    Die Küchentür schwang auf, prallte leicht gegen das Regal, auf dessen oberstem Boden die gestapelten Kaffeedosen zitternd gegen die Macht newtonscher Gesetze ankämpften und diesmal noch obsiegten. Gabriela trat ein. Trat auf wäre vielleicht die bessere Formulierung, dachte Till für sich. Sie sah aus wie ein lebendig gewordenes Reklamefoto. Natürlich keine Waschmittelmutti und auch kein braun gebranntes Sonnenölgirl. Blass und mit ihrem dunklen Haar, das in makellos arrangierten Strähnen über ihre Schultern floss, als habe sie die letzten zwei Stunden vor dem Frisierspiegel verbracht, verstrahlte sie jene morbide Erotik, mit der man Luxussärge, exquisiten Champagner und Eigentumswohnungen in Transsilvanien hätte verkaufen können.
    »Na, ihr Geisterseher.« Unbewusst in Pose verharrte sie neben Dalis in Schubladen zergliederter Frau und schenkte den beiden ein schmallippiges Lächeln. »Womit habt ihr denn heute aufzuwarten? Vielleicht mit Drohbriefen von unseren WG-Mäusen, die uns die Bude über dem Kopf zusammenfallen lassen, wenn wir nicht mehr Käsekanten in den Müll werfen?«
    Martin griff demonstrativ nach einer alten Zeitung und hüllte sich hinter einem Wall zerknitterten Papiers in Schweigen. Einen Augenblick lang taxierte Gabriela noch Till, dann schritt sie zur Obstschale neben dem Kühlschrank, um ihr allmorgendliches Frühstücksritual zu vollziehen. Zu jeder Jahreszeit lag ein scheinbar nie kleiner werdender Berg von Blutorangen in der Obstschale, dazwischen steckte ein dolchartiges Messer, das außer der Tänzerin niemand benutzen durfte. Mit tausendfach eingeübter, anmutiger Geste nahm sie ein Brotbrett aus dunklem Holz aus dem Geschirrschrank, das in tiefen Furchen, gleich heidnischen Hieroglyphen, die Zeichen jahrelanger Abnutzung trug. Mit schnellen, präzisen Schnitten zerteilte Gabriela drei Blutorangen und beraubte sie mit vampirischem Geschick und mittels der schreiend bunten WG-Obstpresse jeglichen Saftes. Die dunkle Flüssigkeit goss sie in ein purpurnes Weinglas. Ihr morgendliches Ritual dauerte kaum länger als drei Minuten und stets vollzog Gabriela es in konzentrierter Stille, bis sie schließlich mit einem Seufzer den letzten Tropfen in ihrer Kehle willkommen hieß. Nach diesem speziellen Vitamincocktail wirkten die Lippen der Tänzerin stets noch ein wenig dunkler und sinnlicher.
    War ihr Ritual vollzogen, setzte sich Gabriela an den Tisch und aß selten mehr als nur ein paar Häppchen, wobei sie roten Lebensmitteln wie Erdbeermarmelade oder Tomatenketchup stets größere Aufmerksamkeit widmete als so banalen Dingen wie Butter und Vollkornbrot.
    »Kannst du dir vorstellen, in eine Märchenwelt entführt zu werden?«, fragte Till, während Gabriela sich einen Käsetoast mit Ketchup bestrich.
    »Natürlich, das machen wir doch jeden Mittwoch beim Rollenspiel. Willst du uns wirklich zum güldenen Kontinent hinter dem Horizont führen? Almat hat da so was erzählt …«
    »Ich rede nicht von Rollenspielen. Martin und ich haben gestern einen Heinzelmann gesehen und der hat uns gedroht. Du, Rolf und Almat, ihr solltet uns ein bisschen ernster nehmen. Warum sollten wir so eine Geschichte wohl erfinden?«
    Die Tänzerin zuckte mit den Schultern und leckte sich Ketchup von den Fingern. »Ist mir auch nicht ganz klar. Vielleicht plant ihr ja den Einstieg in ein nettes Live-Rollenspiel.«
    »Verdammt noch mal, hier geht es um kein Spiel mehr.« Till schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller tanzten. »Es braut sich was zusammen … Jetzt können wir vielleicht noch etwas unternehmen.«
    »Dann zeig mir doch mal einen deiner Heinzelmänner oder besser noch die Dryade, mit der du dich auf dem Friedhof triffst.«
    Was sollte er dazu sagen? Hilflos blickte Till zu Martin, der sich noch immer hinter der Zeitung versteckte und so tat, als

Weitere Kostenlose Bücher