Nebenweit (German Edition)
habe ich ihn noch nie.«
»Ich auch nicht«, gab Tanabe zu. »Als ich das letzte Mal hier war, war auch gerade Kirschblüte. Und da ist es auch passiert.« Damit waren wir wieder aus dem Reich der belanglosen Konversation in die Welt unserer Probleme zurückgekehrt.
»Wollen Sie eigentlich zurück?«, fragte ich ihn direkt, gespannt, ob ich eine verschachtelte nichtssagende Antwort erhalten würde, die sicherstellte, dass niemand Anstoß nehmen konnte. Eigentlich rechnete ich sogar damit.
Tanabe ließ sich etwas Zeit, man konnte ihm ansehen, wie es in ihm arbeitete. Dann strafften sich seine Züge, und er drückte entschlossen die Schultern zurück. »Nein«, erklärte er entschieden. »Sie wird das vielleicht wundern, aber ich habe keine wichtigen Bindungen hinterlassen. Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, meine Mutter ist vor sieben Jahren in einem Altenheim gestorben, Geschwister habe ich keine und verheiratet bin ich auch nicht. An die Welt, aus der ich stamme, bindet mich also allenfalls mein Beruf als Schriftsteller. Den kann ich in dieser Welt auch ausüben, vielleicht sogar mit mehr Erfolg. ›Hiroshima‹ hat mir jedenfalls schon jetzt mehr Anerkennung und, nebenbei gesagt, auch Tantiemen eingebracht als meine sämtlichen Bücher zusammengenommen. Ich habe schließlich ›nur‹ Science Fiction geschrieben. In dieser Welt gibt es so etwas kaum, zumindest in Japan. Hier wird mein Roman als ernsthafte Literatur betrachtet. Nein, ich kann mich über das Leben hier nicht beklagen. Mein Land ist gerade dabei, sich aus einer Paria-Rolle zu lösen, und wirtschaftlich und militärisch ist es schon seit Jahrzehnten eine Weltmacht. Dass ich in der anderen Welt vielleicht mehr persönliche Freiheit genossen habe und dass meine Umwelt nicht so stark reglementiert war, wie das hier der Fall ist, belastet mich persönlich nicht.
Nein«, wiederholte er nach kurzem Nachdenken, »ich möchte nicht zurück.« Er sah mich forschend an. »Ehrlich gesagt, habe ich mir diese Frage schon seit langer Zeit nicht mehr gestellt. In den ersten Monaten … Ja, natürlich. Da war ich sozusagen auf der Flucht, musste mich verstecken, mir eine Existenz aufbauen. Aber als das dann geregelt war und ich auch über ein ausreichendes Einkommen verfügte, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, wurde allmählich alles zur Selbstverständlichkeit.
Sehen Sie, ich bin jetzt vierzig und habe mit meinem Buch bereits genug Geld verdient, um, wenn es ganz schlimm kommt, nie mehr arbeiten zu müssen. In der anderen Welt habe ich von der Hand in den Mund gelebt, weil ich nicht in einer der großen internationalen Firmen tätig war – dazu hätte ich eine Eliteuniversität besucht haben müssen. Und dafür hatte es bei meinen Eltern nicht gereicht. So konnte ich mir auch keine Familie leisten und wäre wahrscheinlich immer ein Einzelgänger geblieben und hätte ständig am Computer gesessen und geschrieben, um die nächste Miete bezahlen zu können.« Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Foto. »Da sehen Sie, das ist Fräulein Mikata, ich habe sie bei einer Lesung meines Buches kennengelernt. Wir verstehen uns sehr gut und werden vielleicht heiraten.« Seine sonst so ernsten Züge unter der überdimensionierten Brille strahlten plötzlich. »Nein, ich fühle mich hier wohl und möchte immer hierbleiben. Sumi-masen«, fügte er dann hinzu, geradewegs so, als wäre er mir zu nahe getreten. Entschuldigen Sie, hieß das.
Ich nickte. Ich konnte ihn verstehen. Persönlich lagen bei mir die Verhältnisse ganz anders, aber davon abgesehen wies diese Welt auch gegenüber der meinen so manchen Vorteil auf, der einen nachdenklich machen konnte. Ob ich mich eines Tages auch wie Tanabe arrangieren würde? Zumal ja keineswegs gesagt war, dass ich je eine Wahl haben würde.
Eine Weile schwebte Schweigen zwischen uns, jeder hing seinen Gedanken nach, bis Tanabe schließlich das Wort ergriff, offenbar auch bemüht, das Thema zu wechseln. »Sie sollten sich heute Abend im Hotel ein Onsen und eine Massage gönnen. Sie wissen ja, diese Gegend ist für ihre heißen Quellen berühmt. Das wird Ihnen guttun und Sie vielleicht auch auf andere Gedanken bringen. Wir haben noch eine gute Stunde Zeit, dann will ich zu meinem Zug aufbrechen, damit es heute Abend nicht zu spät wird. Sie wollten sich bei mir ja noch über das Weltgeschehen in den letzten drei Jahren informieren, fragen Sie also ruhig.«
Das war eine gute Idee und
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