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Nebenweit (German Edition)

Nebenweit (German Edition)

Titel: Nebenweit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Zwack
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würde mir so manche Lektüre ersparen. Tanabe hatte in der kurzen Zeit, die wir uns jetzt kannten, erkennen lassen, dass er sich ähnlich mir stark für Geschichte interessierte, und hatte mich gestern über das Geschehen in meiner Welt ausgefragt. Jetzt war also ich an der Reihe. »Am meisten wundert mich, wie wenig der Islam in dieser Welt von sich reden macht. Sie haben ja noch das Attentat auf das World Trade Center und den Beginn des 2. Irakkrieges miterlebt. In dieser Welt scheint diese Art Terrorismus keine Rolle zu spielen …«
    »So könnte man sagen, obwohl es natürlich islamische und auch sonstige ethnische Splittergruppen gibt, die immer wieder irgendwo Unruhe stiften. Der Völkerbund hat da eine ganz entscheidende Rolle gespielt, und zwar weil es der Staatengemeinschaft gelungen ist, sich auf einen schrittweisen Abbau der Kolonialherrschaft zu einigen. Der hat auch tatsächlich stattgefunden. Es grenzt an ein Wunder, dass sowohl das osmanische wie auch das Zarenreich sich daran gehalten haben, von den Briten ganz zu schweigen. Aber die Weltmeinung in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat das erzwungen. Vermutlich saßen der ganzen Welt noch die Gräuel der Türkischen Revolution von 1912 in den Knochen. Und dass da britische und deutsche Truppen gemeinsam eingegriffen und der Welt demonstriert haben, dass die beiden damals stärksten Mächte der Welt zu gemeinsamem Handeln fähig waren, hatte ganz sicher entscheidenden Einfluss. Die Konferenz von Ghom, in der sich erstmals so etwas wie eine gemeinsame islamische Doktrin herausgebildet hat, also eine Versöhnung von Sunniten und Schiiten, ist wohl von ähnlicher historischer Bedeutung.«
    »Und Israel?«, fragte ich benommen. Ich hatte in den knapp drei Wochen, in denen ich jetzt in dieser Welt lebte, ein gutes Dutzend Geschichtswerke verschlungen, aber die hatten sich überwiegend mit Europa und Amerika befasst. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Wort Israel darin kein einziges Mal erwähnt worden war.
    »Israel?«, wiederholte Tanabe und lächelte. »Das gibt es nicht. Vergessen Sie nicht, dass es seit beinahe hundertfünfzig Jahren keine Judenverfolgungen mehr gegeben hat. In diesem Winkel der Erde spielt das ja ohnehin keine Rolle, aber da es in Europa weder einen wilhelminischen Militarismus noch ein Nazireich gegeben hat und Russland sich nach den Schrecken der türkischen Revolution erstaunlich schnell zu einer konstitutionellen Monarchie entwickelt hat, in der es keine Pogrome mehr gab, sind die Juden weltweit in den jeweiligen Ländern voll integriert, auch wenn man sie gelegentlich wegen ihres Geschicks im Umgang mit Geld beneidet. So habe ich es zumindest hier gelesen. Soweit mir bekannt ist, gibt es in der Jordanischen Föderation eine kleine autonome Region, die überwiegend von orthodoxen Juden bewohnt wird, aber Jerusalem, das in unserer Welt immer wieder der Zankapfel war, wird von allen ›Religionen des Buches‹ – das ist doch, glaube ich, der Überbegriff für Christentum und Islam – als Heilige Stadt angesehen und steht allen Gläubigen offen.«
    Schöne neue Welt, dachte ich und stellte mir wieder einmal die Frage, ob ich wirklich in die meine zurückkehren wollte – eine Welt, die einem manchmal paranoid erscheinen musste und die doch keine andere Wahl hatte, als immer neue Sicherheitsvorkehrungen gegen immer neue Teufeleien von Fanatikern zu erfinden, die nicht etwa gegen jene kämpften, die sie als ihre Feinde bezeichneten, sondern sich als Ziele unschuldige Zivilisten, Frauen und Kinder aussuchten.
    »Ich ahne, was Sie jetzt denken«, meinte Tanabe, der mein Schweigen wohl richtig gedeutet hatte. »Mir ist es in den ersten Monaten genauso gegangen, auch wenn Japan nicht im gleichen Maße betroffen war wie die westliche Welt. Aber ich hatte Freunde in den USA, noch aus meiner Studienzeit, und bin auch häufig dorthin gereist, weil ich die Weite insbesondere in den Staaten im Westen geliebt habe. Darum kenne ich die immer intensiver gewordenen Sicherheitsmaßnahmen. Zuletzt musste man ja sogar seine Schuhe ausziehen, wenn man an Bord eines Flugzeugs gehen wollte.«
    Während wir so plauderten, waren wir den Weg zurückgewandert, den wir ursprünglich gekommen waren, vorbei an flammenrotem Ahorn zwischen grünen Tannen und Fichten, die sich im unbewegten Wasser des Ashi-Sees spiegelten, und hatten jetzt den mit Schindeln gedeckten Unterstand erreicht, wo der Pendelbus vom Hotel seine Gäste absetzte und

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