Nebenweit (German Edition)
seit über zweihundert Jahren nutzte, um den Abgrund zwischen den Zeitlinien zu überwinden.
Ich ließ meine Träume Revue passieren – den Traum von den Männern in der Hütte, ganz offensichtlich ein Wahrtraum, den von dem Dorf in der Anderwelt. War das ebenfalls ein Wahrtraum gewesen, gar mehr als ein bloßer Traum … ein ›Rutsch‹? Nein, ich hatte mich ja zwischen den Menschen im Dorf bewegt, ohne dass jemand auf mich aufmerksam geworden wäre, konnte also nicht körperlich dort gewesen sein. Und dann der Traum von dem Burghof …? Ich spürte, wie meine Lider schwer wurden; eine seltsame Mattigkeit überkam mich, und ich beschloss, Dr. Beauchamps Rat zu folgen, und legte mich auf die Liege, lockerte den Gürtel, streifte meine Schuhe ab … und nahm kaum wahr, wie ich in labenden Schlaf versank.
Jacques Dupont/Obertix
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Der dichte Strom von Fahrzeugen, die die Champs-Élysées wie ein stählerner Fluss füllten, wälzte sich lautlos an mir vorbei. Zu meiner Linken ragte eindrucksvoll in vielleicht zweihundert Meter Entfernung der gewaltige Torbogen des Arc de Triomphe auf, auf der gegenüberliegenden Straßenseite glänzten die Glasfassaden der Nobelgeschäfte. Seit Paris in den neunziger Jahren mit fossilen Treibstoffen betriebene Fahrzeuge aus der Innenstadt verbannt hatte, hatte sich das Angebot erschwinglicher Elektrofahrzeuge gewaltig gesteigert, sodass heute alle Welt voll Neid auf die Stadt des Lichts schaute.
Gewöhnlich führte ich die Gespräche mit meinen Amtskollegen aus den Anderwelten in Luteta, aber heute wollte ich mir einfach den Luxus und die modernen Annehmlichkeiten der Anderwelt gönnen und hatte deshalb ins › L’Alsace ‹ eingeladen, mein Lieblingslokal in drei Parallelwelten, auch wenn es in der Germaniawelt ganz profan ›Elsass‹ hieß und neben dem berühmten Choucroute Royal seiner Herkunftsregion auch deutsches Sauerkraut auf der Karte stehen hatte.
Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit hatte der Winter Paris noch nicht erreicht, und so konnten wir im Freien sitzen und die warme Herbstsonne genießen. Bentix, der sich in seiner Welt – der Amerikazeitlinie – Randall Wilson nannte, saß mir gegenüber und nahm gerade einen Schluck aus seinem Bierglas, setzte es dann ab und meinte, wie seltsam es doch sei, dass in seiner Welt ›derartige Vorkommnisse‹ noch nicht aufgetreten seien, womit er natürlich das massierte Auftreten von AWs in meinem Bereich meinte. Er sah aus, wie man sich den typischen Pariser vorstellt, schmächtig, dunkelhaarig und, wie um das Klischee zu bestätigen, mit einem schmalen Oberlippenbärtchen. Wir sprachen deutsch, was ihn nicht daran hinderte, seine Worte mit lebhaften gallischen Gesten zu begleiten. Sein Bierglas setzte er so heftig auf, dass etwas von seinem Inhalt herausspritzte, was Ladox, den Delegierten der Germaniawelt, dort unter dem Namen Walter Heinrich agierend, leicht zusammenzucken ließ.
»Ich halte das für reinen Zufall«, meinte er und legte das Sandwich beiseite, von dem er gerade abgebissen hatte. »Mir gibt eher zu denken, dass sich die Vorkommnisse plötzlich häufen. Ich frage mich, ob das damit zu tun hat, dass unser gemeinsamer Freund Antolax in den letzten Wochen besonders aktiv geworden ist. Er ist ja kürzlich zum Standartenführer befördert worden – ein ziemlich hoher Rang, der ihm auch ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit und beachtliche Vollmachten verschafft – und das könnte ihm zu Kopf gestiegen sein. Ein übermäßig bedächtiger Typ war er ja nie.«
»Meine Leute haben mir bisher keinerlei verdächtige Vorkommnisse berichtet«, meldete sich das jüngste Mitglied unserer Runde, Serfax, zu Wort, in der Roma-Aeterna-Welt unter dem Namen Quintus Remulus tätig. Er trug sein blondes Haar kurz gestutzt mit sorgfältig in die Stirn gekämmten Fransen, etwa so, wie man es von Münzen aus der römischen Kaiserzeit vor zweitausend Jahren kannte. Im Ewigen Römischen Reich, dem seine Zeitlinie den Namen verdankte, erinnerte sich die Mode gerade, rund zweieinhalbtausend Jahre nach Gründung der ewigen Stadt, der klassischen Phase, was sich sowohl in den Frisuren wie auch in der Kleidung äußerte. Ladox hatte Serfax bei der Begrüßung damit aufgezogen, dass er nicht in der Toga erschienen war, die derzeit in der ganzen Republik, von Kleinasien bis zum Nordkap, getragen wurde.
***
Ich war eine knappe Stunde vor meinen Kollegen am verabredeten Ort erschienen und hatte ein
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