Nebenweit (German Edition)
wenig im › Figaro ‹ geblättert, ohne recht auf den Inhalt der Zeitung zu achten. Die Länder Europas lebten mit sich und der Welt in Frieden, die Wirtschaft florierte, auf der Welt gab es, wie es schien, keine Probleme, und so beherrschte eine Korruptionsaffäre im Sozialministerium die Schlagzeilen. Beneidenswert! Sich darüber aufregen zu können, dass ein Staatssekretär offenbar von einer Wohlfahrtsorganisation Bestechungsgelder angenommen hatte.
Meine Gedanken hatten zu wandern begonnen. Statt sich mit den Problemen der Germaniawelt und der von ihr ausgehenden Gefahr zu befassen, hatte mich plötzlich mein Gewissen zu plagen begonnen. Da saß ich in einem Restaurant an den Champs-Élysées in einer der wohlhabendsten Städte dieser Welt, lebte sorglos das Leben der gehobenen Bürgerschicht einer Welt, die nicht die meine war, und fühlte mich in ihr so zu Hause, als wäre ich in ihr geboren, und genoss alle Segnungen einer Zivilisation, die ebenfalls nicht die meine war. Hatten die Tradis wirklich so unrecht, wenn sie Leute wie mich als Schmarotzer bezeichneten und uns vorwarfen, dass Leute wie wir die Schuld an der schrecklichen Grippeepidemie trugen, die vor beinahe hundert Jahren mehr als ein Viertel unserer Bevölkerung dahingerafft hatte? Wo wir es doch besser hätten wissen müssen, schließlich hätte uns die Pockenepidemie warnen müssen, die fünfzig Jahre davor ebenfalls an die zehntausend Opfer gefordert hatte. Und das nächste Mal würde es noch schlimmer kommen, posaunten sie ständig hinaus – was sie freilich nicht daran hinderte, selbst allem Anschein nach immer mehr ihrer Anhänger in die Germaniawelt zu schicken und sich dort breitzumachen.
Wenn ich es mir recht überlegte, war ich in dieser Welt mehr zu Hause als in der eigenen. Von den letzten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens hatte ich fünfzehn in der Europawelt verbracht, hatte in München studiert, mir ganz im Sinne meines Amtes und selbstverständlich mit massiver materieller Unterstützung der Regierung eine Existenz und einen perfekt funktionierenden Stützpunkt aufgebaut, genoss Einfluss und Ansehen ebenso wie die große Freiheit des Handelns, die meine Position mir verschaffte. Ein Leben im Glück, hätte man sagen können, wäre da nicht der tragische Unfall gewesen, der vor drei Jahren meine Frau von meiner Seite gerissen hatte, Bitex, in der Europawelt hatte sie sich Monique genannt. Dass uns Kinder versagt waren, war in dieser Situation eher eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen, für die ich den Göttern heute dankbar war. Den Göttern? Eine Fiktion, das war mir bewusst. Für mich hatte die Religion meines Volkes schon lange nur mehr zeremonielle Züge, und ich wusste, dass die meisten Leute meiner Umgebung so dachten, nahezu alle jedenfalls, die Zugang zu den Anderwelten hatten.
Moniques Tod war ein schwerer Schlag für mich gewesen und hatte mich ein paar Wochen völlig aus der Bahn geworfen, und ich hatte meine Aufgaben sträflich vernachlässigt, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Seitdem lebte ich in einer Art selbst auferlegtem Zölibat. Verbindungen mit Anderweltlern einzugehen war uns strengstens verboten, auch wenn es naturgemäß immer wieder Verstöße gegen diese Regel gab. Im Übrigen waren die einzigen Frauen aus meiner Welt, die es in meinem persönlichen Umfeld gab, ohnehin Angestellte meines Instituts, und die waren schon aus anderen Gründen tabu.
Eine Autohupe riss mich aus meinen Gedanken, und ich machte mir klar, dass ich mich auf das Gespräch mit meinen Kollegen vorbereiten musste. Die Sitzung im Regierungskreis hatte erwartungsgemäß zu keinen wesentlichen neuen Erkenntnissen geführt, schließlich war ich derjenige, der das Problem geschildert hatte und zu dessen unmittelbarem Aufgabenkreis es auch gehörte. Ich hatte mir von der Sitzung auch keine Handlungsvorschläge erwartet, wohl aber Unterstützung und die uneingeschränkte Vollmacht zum Handeln, und die war mir einstimmig erteilt worden. Am Ende der Sitzung hatte No Telux seinen Amtsstab gehoben und den Segen der Götter auf mein Tun herabbeschworen. Alles Weitere lag jetzt bei mir.
***
»… aber für uns interessiert sich ja auch kaum einer«, begründete Serfax seine Aussage. »Ich frage mich oft, warum man meine Station überhaupt eingerichtet hat. Eigentlich ist es ja fast langweilig. Mal ein Kirchenkongress, mal eine Brückeneinweihung, die Zeitungen wissen ja kaum, was sie schreiben sollen«,
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