Nebenweit (German Edition)
stumm. Dupont nickte ebenfalls und fuhr fort: »Die ersten hundert Jahre gab es auch aus unserer Sicht keine Probleme, zumindest nicht solche, die zu unserer Entdeckung oder zu Spannungen mit Anderweltlern geführt haben. Auf unserer eigenen Welt freilich sah das ganz anders aus.
Um das Jahr 1920 nach Ihrer Zeitrechnung gab es in den Europa- und Amerikazeitlinien eine Epidemie, die man als die Spanische Grippe bezeichnete und die zwischen 25 und 50 Millionen Tote gefordert hat. Das sind zwischen ein und zwei Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Schlimm genug. Diese Seuche wurde auch bei uns eingeschleppt und hat rund 30 000 Opfer gefordert. So genau weiß man das nicht, denn verlässliche Bevölkerungsstatistiken, wie es sie bei Ihnen gibt, hatten wir damals nicht und besitzen sie auch heute noch nicht. Aber es gab keine Familie, die nicht ein oder zwei Opfer zu beklagen hatte, und nach den Schätzungen, die man damals angestellt hat, dürfte die Seuche etwa ein Viertel unserer Bevölkerung dahingerafft haben. Ein Viertel – das ist so, als wären damals in Ihrer Welt auf der Erde eine halbe Milliarde Menschen gestorben. Können Sie sich das vorstellen? Damals haben bei uns nur an die neunzigtausend Leute überlebt, und es grenzt an ein Wunder, dass das nicht überhaupt unser Ende war.
Vielleicht haben wir sogar nur deshalb überlebt, weil sich zu der Zeit bereits an die tausend Menschen auf Dauer hier in dieser Welt und der Ihren, Bernd, niedergelassen hatten. Zumindest deren Kinder hatten sich den vorgeschriebenen Impfungen unterzogen. Und ihren Eltern stand ärztliche Versorgung in einem Maß zur Verfügung, wie man sie auf unserer Welt sonst natürlich nicht kannte.«
Er verstummte, und man konnte deutlich spüren, wie ihn seine Erzählung aufwühlte. Nach ein paar Augenblicken nahm er den Faden wieder auf. »Das war nicht die erste Epidemie, die wir in unsere Welt einschleppten. Um 1865 starben an die 10 000 unserer Mitbürger an den Pocken. Damals haben wir angefangen, uns ganz besonders dem damals ja auch bei Ihnen noch nicht sehr hoch entwickelten Studium der Medizin zu widmen. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich Mediziner bin, das ist das Studium, das auf Wunsch unserer Regierung die meisten Residenten ergreifen.«
Auf Carols fragenden Blick nickte er und erklärte, dass als Resident Leute wie er bezeichnet wurden, die in erster Linie als Beobachter eingesetzt waren, aber einer Tarnbeschäftigung nachgehen mussten, um unter ihren ortsansässigen Mitbürgern nicht aufzufallen. »Und natürlich auch, um einem geregelten Leben nachzugehen«, setzte er mit einem leichten Lächeln hinzu. »Ich kann Ihnen sagen, dass unsere Klinik durchaus Gewinn erwirtschaftet. Die meisten unserer Patienten wissen natürlich nicht, dass sie sich in einer Art Außenstation befinden. Dabei stammen sämtliche Ärzte und alle leitenden Verwaltungsmitarbeiter ausnahmslos aus Luteta, manche freilich schon in zweiter oder dritter Generation.«
»Zweiter oder dritter Generation?«, warf ich ein. »Heißt das, diese Menschen wurden hier geboren und sind hier in unserer Mitte aufgewachsen? Unerkannt? Wie kann so etwas denn in einem modern verwalteten Staat funktionieren? Ich meine, für einzelne Personen kann ich mir das natürlich vorstellen. Ausweise lassen sich fälschen, Identitäten künstlich erzeugen – aber so, wie Sie das sagen, betrifft das ja zweifellos nicht nur Ihr Klinikpersonal, sondern ist irgendwie typisch. Und das würde heißen, dass es bei uns sozusagen eine ganze Kolonie Ihrer Leute gibt.«
»Genauso ist es auch«, nickte Dupont. »Ich denke, wir sind da recht geschickt vorgegangen, haben Leute in die Standesämter eingeschleust beziehungsweise in die Kirchenverwaltungen, als die noch deren Funktion innehatten. Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, wo das wahre Problem dieser Leute liegt. Damit stoßen wir nämlich zum eigentlichen Thema und auch zum Kern des Konflikts vor.«
»Jetzt bin ich aber echt gespannt«, schaltete Carol sich ein. »Die Sache mit den Standesämtern ist ja eigentlich gar nicht so interessant – schließlich gibt es in meinem Land so etwas gar nicht.«
Dupont musste lachen. »›Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte‹. Das ist, glaube ich, von Goethe.« Wieder einmal musste ich über unseren Besucher staunen. Sein Fundus an humanistischem Wissen schien unerschöpflich. Er schien meine Verwunderung zu bemerken und lächelte. »Ich weiß schon, ich gebe manchmal
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