Nebenweit (German Edition)
Chefdiplomaten eines Volkes zu tun, das seit zweihundert Jahren im Untergrund Fäden zog. Aber das würde ich ihr später erklären.
»Mir ist bewusst, dass das nicht ohne Weiteres zu verstehen ist. Die Tradis waren tatsächlich anfangs eine religiöse Bewegung und als solche auch einigermaßen tolerant«, meinte er und nickte mir dabei zu. Etwa so, wie man einem Schüler zunickt, um ihm zu verstehen zu geben, dass er gut aufgepasst hatte und man das zu würdigen wusste. »Das Problem ist nur, dass religiöse Bewegungen ideologisch ausgerichtet sind und daher auch für jemanden mit den richtigen Argumenten leicht zu beeinflussen, solchen nämlich, die in die jeweilige Ideologie passen. Und Antolax versteht es meisterhaft, auf dieser Klaviatur zu spielen, das können Sie mir glauben. Er ist auch Ideologe, aber seine Ideologie folgt wesentlich schlichteren Grundsätzen. Sie ist einzig und allein an seinen persönlichen Interessen orientiert und ansonsten sehr flexibel.«
Er nahm einen Schluck Tee, goss sich aus der Kanne nach und gab bedächtig ein Stück Kandiszucker hinzu. Während er langsam umrührte, fuhr er fort: »Mit dieser Haltung hat er sich seine Position bei den Nazis aufgebaut und ist so in eine ziemlich hohe Hierarchiestufe aufgestiegen. Soweit ich das beurteilen kann, regiert er auf seiner Burg in Ostpreußen wie ein mittelalterlicher Potentat. Und seit er erkannt hat, dass dies hier eine bessere Welt ist, hat er es darauf angelegt, sich hier einen Stützpunkt aufzubauen. Das ist wesentlich schwieriger, zum einen, weil die Gesellschaftsordnung dieser Zeitlinie und insbesondere der Europäischen Föderation praktisch keine autokratisch herrschenden Hierarchien kennt, zum anderen auch, wenn ich das so sagen darf, weil er es hier auch mit einer funktionierenden Gruppe meiner Leute zu tun hat.«
Er nippte wieder an seinem Tee, stellte Tasse und Unterteller ab und hob abwehrend die rechte Hand. »Ich weiß, das klingt ein wenig anmaßend, aber Sie müssen wissen, dass wir seine Bewegungen und natürlich auch die seiner Leute seit geraumer Zeit scharf beobachten. Dass das nicht immer hundertprozentig funktioniert, liegt in der Natur der Sache, siehe die Entführung Mr. Mortimers. Aber Mortimers Auftauchen war schließlich ein Ereignis, mit dem wir nicht rechnen konnten. Wie es allerdings passieren konnte, dass Antolax schneller als wir informiert wurde, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Was übrigens Mortimer betrifft – sein Zustand hat sich gestern deutlich verschlechtert. Man hat mir heute Morgen von hohem Fieber berichtet. Die letzten Tage haben den alten Mann offenbar stärker mitgenommen, als man ihm das zunächst angesehen hat.«
»Wirklich ein reizender Mensch«, warf Carol ein. »Vielleicht hat man Ihnen berichtet, dass ich gestern mehrere Stunden bei ihm war. Ich bin kaum zum Reden gekommen. Er hat ständig von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Und natürlich von seiner Gisela. Die beiden müssen sich wirklich geliebt haben.«
»Ja, er ruft in seinen Fieberphantasien immer wieder nach ihr. Und Ihr Name, Carol, ist auch gefallen. Sie müssen großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Ich fürchte allerdings, dass wir uns nicht mehr um seine Rückkehr nach Amerika zu bemühen brauchen. Er ist so geschwächt, dass ich, auch in Hinblick auf seine fortgeschrittene Krebserkrankung, nicht mehr an eine Heilung glaube. Die Lungenentzündung, die er sich bei seinem Aufenthalt in der Gewalt von Antolax’ Banditen zugezogen hat, könnte ihm den Rest geben. Und seine Abwehrkräfte, vielleicht sollte ich auch sagen: sein Lebenswille, sind nicht mehr besonders stark.«
In Carols Augen schimmerte es feucht. Ich hatte schon aus ihrer Erzählung erkannt, dass sie den alten Mann ins Herz geschlossen hatte. »Was wollte Antolax denn von ihm?«, versuchte ich, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Ich meine, ich kann nicht erkennen, in welcher Weise Mortimer oder sein Wissen um meine Welt für Antolax wichtig sein könnten.«
»Grenzgänger – so bezeichnen unsere Gelehrten Leute wie Sie und Mortimer – haben Antolax schon immer fasziniert. Bis zu Ihrem Auftauchen hier gab es die ja nur in der Theorie und allenfalls gerüchteweise. Seit wir von der Existenz der Parallelwelten wissen und uns in diese versetzen können, wird darüber spekuliert, dass es ja logisch wäre, wenn die Fähigkeit zum ›Rutsch‹ auch in anderen Zeitlinien vertreten wäre. Nur war das bisher eben reine Theorie. Gelegentlich sind
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