Nebenweit (German Edition)
nicht zuletzt durch die Exporterfolge der chinesischen Industrie. Beobachter der Szene erwarten eine weitergehende Verflechtung der Volkswirtschaften der drei Länder, womit langfristig ein wirtschaftliches Gegengewicht zu den heute dominierenden Wirtschaftsblöcken Europas und Britannias entstehen dürfte.
So kann man nur hoffen, dass Japan als wohl letzte der Großmächte ebenfalls eingesehen hat, dass dieser Planet groß genug für alle seine Bewohner ist und friedliche Koexistenz und freier Handel am Ende des Tages den Wohlstand aller in höherem Maße mehren können als ständiges Streben nach Ausweitung territorialer Macht.
Wieder ließ ich die Zeitung sinken. Ich würde mich ein paar Tage lang in eine Bibliothek zurückziehen müssen, um die vielen Veränderungen einigermaßen zu erfassen, die diese Welt gegenüber der meinen aufwies. Andernfalls würde ich mit niemandem ein vernünftiges Gespräch führen können und möglicherweise sogar Verdacht erregen. Schließlich wusste ich ja auch nicht, ob ich es mit einer liberalen Gesellschaft oder mit einem Polizeistaat zu tun hatte, auch wenn alles, was ich bisher wahrgenommen hatte, eher auf Ersteres schließen ließ.
Ein Blick aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Wiesenlandschaft ließ mich erkennen, dass wir uns Rosenheim näherten. Ich hatte mit Carol verabredet, dass ich den Zug nehmen würde, der um 18:20 Uhr dort eintraf. Unser silberner Mercedes wartete bereits auf dem Bahnhofsvorplatz, und Carol winkte mir vom Fahrerplatz aus zu.
»Na, hast du was Neues erfahren?«, begrüßte sie mich mit erwartungsvollem Blick.
Ich schüttelte den Kopf, »Nein, Gustav hat mir eine Menge Fachausdrücke um die Ohren gehauen und mir dann erklärt, was ich schon wusste, nämlich wie wir Science-Fiction-Autoren meist mit der Idee des Paralleluniversums umgehen. Die Reise hätte ich mir sparen können.«
»Science Fiction? Was ist das? Ist das so etwas Ähnliches wie die Technovisionsromane, die du immer liest, ich meine, die Bernhard liest. Oder magst du die auch?«
»Ganz richtig, bei uns hat deine Heimat einen wesentlich stärkeren Einfluss auf das Alltagsgeschehen als hier, und das äußert sich halt auch im Sprachgebrauch.« Ich deutete auf einen Imbissstand. »Schau, was hier ›Kaffee zum Mitnehmen‹ heißt, nennt sich bei uns ›Coffee to go‹. Ich finde das hier durchaus richtig, ja sogar besser, weil wir ja schließlich in Deutschland sind.« Ich grinste. »I hope that doesn’t hurt your feelings.« Wir sprachen oft Englisch miteinander, schließlich hatten wir lang genug ›drüben‹ gelebt, außerdem war es ja Carols Muttersprache.
***
Der Mittwoch war ganz meiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft gewidmet, also Scheckkarte, Mobi, Ausweis und was sonst noch so alles erforderlich war, um aus einem normalen Homo sapiens einen Bürger dieses Landes zu machen. »Da muss Mama überall mitkommen«, hatte ich noch beim Abendessen Carol erklärt, die einen recht schweigsamen Eindruck machte, mir aber zugestimmt hatte. Schließlich wollte ich bei der Beschaffung nicht mit irgendwelchen dämlichen Fragen auffallen. Wir hatten uns bereits davon überzeugt, dass meine Unterschrift – soweit man das als Nicht-Graphologe erkennen konnte – mit der identisch war, die auf verschiedenen Dokumenten in Bernhards Akten aufzufinden war. In der Hinsicht sollte es also keine Probleme geben.
Ich gab überall an, man habe mir die Brieftasche mit sämtlichen Papieren gestohlen, füllte geduldig Antragsformulare aus und hinterließ Fotos, die ich vorher am Automaten hatte anfertigen lassen. Carol fand mich darauf nicht sonderlich attraktiv und warf mir vor, ich hätte in München zu einem ordentlichen Fotografen gehen können, aber dafür war es jetzt zu spät, schließlich wollte ich keinen Tag länger als unerlässlich Unperson sein. Mir fiel auf, dass auf den Behörden und Ämtern kaum Leute warteten und die Sachbearbeiter sich alle ausgesuchter Höflichkeit befleißigten. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, sie seien besser gekleidet, als ich das von ähnlichen Institutionen ›zu Hause‹ in Erinnerung hatte. Der Mann, der mir meinen Ersatzführerschein aushändigte, trug sogar einen dunkelblauen Blazer und Krawatte. Und das bei gar nicht herbstlichen fünfundzwanzig Grad im Schatten …
Nachdem die Formalitäten alle erledigt waren und ich somit hoffen durfte, in absehbarer Zeit sozusagen verwaltungstechnisch wieder zum Vollbürgertum zurückgefunden
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