Nebenweit (German Edition)
so, wie Sie mir meine Versetzung in diese Welt erklärt haben, können Sie auch gar nichts dafür …« Ich musterte ihn fragend.
»Nein, das kann ich auch nicht«, lächelte er. »Aber wir haben großes Interesse daran, dass Sie hier nicht auffallen. Das würde nämlich nicht nur Ihre, sondern auch unsere Sicherheit gefährden. Ich weiß nicht, ob das in meiner bisherigen Schilderung hinreichend zum Ausdruck gekommen ist, aber wir geben uns die größte Mühe, nicht aufzufallen, und haben das über beinahe zweihundert Jahre auch geschafft. Menschen haben Angst vor dem Unbekannten, dem Unerklärlichen, das ist ein Wesenszug, der ganz tief in uns allen sitzt. Und selbst wir können die Fähigkeit, uns zwischen den Weltlinien zu versetzen, nicht nachvollziehbar erklären, leben aber seit über zweihundert Jahren damit und haben uns daran gewöhnt. Dass Sie selbst einigermaßen mit dieser Vorstellung umgehen können, liegt daran, dass Sie sich intensiv mit der Welt des Fantastischen befasst haben, aber damit gehören Sie zu einer winzigen Minderheit. Die Masse der Menschen würde Angst vor uns haben, und aus Angst entstehen Dinge wie Hexenverfolgungen und Pogrome, auch in der modernen Welt.
Ich habe mich lange mit meinem Freund Jacques Dupont in der Europawelt darüber unterhalten. Er wird sehr erstaunt und erfreut sein, wenn ich ihm berichte, dass wir Sie gefunden haben. Ich sollte ihn schnellstmöglich informieren, aber das muss bis morgen warten. Wir sind jetzt übrigens gleich da.«
Ich sah zum Fenster hinaus und bemerkte erst jetzt, dass wir München bereits erreicht hatten und durch hell erleuchtete Straßen fuhren. Ich versuchte, mich zu orientieren, aber das war jetzt bei Nacht nicht möglich, auch nicht, als das Taxi vor einem mehrstöckigen Gebäude anhielt und Heinrich den Fahrer bezahlte. Ich stieg aus und sah mich um, aber da war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Das hätte ebenso auch die Ungererstraße sein können, in deren Nähe Carol und ich bald zehn Jahre selbst gewohnt hatten.
***
Ich muss wirklich sehr müde gewesen sein, denn als ich schließlich nach traumlosem Schlaf erwachte und mich in der mir fremden Umgebung umsah, konnte ich mich kaum daran erinnern, wie ich ins Bett gekommen war. Ich fand mich in einem kleinen, ziemlich steril eingerichteten Raum, den das durch die Vorhänge gedämpfte Tageslicht in ein angenehmes Zwielicht tauchte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es elf Uhr war, ich musste also an die zehn Stunden geschlafen haben! Mein Bett stand an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand, außer ihm enthielt der Raum einen Schrank, ein kleines Tischchen mit zwei nicht gerade einladenden Sesseln sowie ein Waschbecken. Ebenso gut hätte ich mich in einem Billighotel irgendwo auf der Welt befinden können. Auf einem Hocker neben dem Bett lag Kleidung, eine Art Jogginganzug, Unterwäsche und Socken.
Ich stand auf und stellte fest, dass ich einen gestreiften Pyjama trug, den ich noch nie gesehen hatte, und schloss daraus, dass Heinrich mich ins Bett gebracht und ausgezogen haben musste. So etwas war mir noch nie passiert – aber der gestrige Tag war schließlich auch mit nicht gerade alltäglichen Ereignissen angefüllt gewesen.
Ich trat ans Waschbecken, fand dort das übliche Waschzeug und gab mir Mühe, mich wieder einigermaßen präsentabel zu machen, wobei mir bewusst wurde, dass ich dringend einen Haarschnitt brauchte. Mein letzter Friseurbesuch in Unterwössen lag gut und gerne zwei Monate zurück, und in meinem Kellergefängnis hatte man mir zwar einen elektrischen Rasierapparat zur Verfügung gestellt, aber an Haarschneiden hatte ich nie gedacht. An viele andere Dinge auch nicht, sinnierte ich, verdrängte aber alle Gedanken an mein früheres Leben ganz schnell wieder in den Hintergrund. Da ich eigentlich Nassrasierer war, empfand ich es als willkommenen Luxus, dass mein Gastgeber die dafür erforderlichen Utensilien bereitgelegt hatte.
Das sagte ich ihm auch, als ich schließlich mein Zimmer verließ – nach mehr als vier Wochen in einer stets versperrten Zelle ein ganz neues Erlebnis – und mich auf dem Flur am Geruch von frischem Kaffee orientierte, der mir aus einem Raum am Ende des Korridors entgegenschlug, der Küche, wie ich feststellte … Heinrich saß bei einer Tasse Kaffee an einem schlichten Tisch vor dem Fenster und las Zeitung, die er bei meinem Eintreten beiseitelegte.
»Na, ausgeschlafen?«, meinte er und bedeutete mir dann mit einer
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