Nebenweit (German Edition)
damit umgehen, dass er für den Rest seines Lebens in einer Diktatur verbringen musste? Im Gegensatz zu seinem Zwilling, der ja sozusagen in seine Existenz geschlüpft war, materiell wie auch, was die persönlichen Beziehungen anging, machte ich mir bewusst, war er hier ganz allein, ohne jegliche menschliche Bindung, ohne Wohnung, mittellos – ein Schiffbrüchiger in einer fremden Welt. Der Mann tat mir jetzt schon leid, dabei hatte ich ihn noch nicht einmal gesehen.
***
Im Taxi, das mich vom Hauptbahnhof nach Schwabing fuhr, versuchte ich, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Ein ›Rutsch‹ im Zustand von Erregung oder auch nur angespannten Denkens hatte seine Probleme und konnte leicht scheitern. Nicht so katastrophal wie vermutlich der Blindrutsch Antolax’, aber es war immerhin möglich, dass man einfach da blieb, wo man war, und dann ein paar Stunden brauchte, bis man es erneut versuchen konnte.
Als die vertraute Jugendstilfassade von Nummer 42 auf der rechten Seite auftauchte und das Taxi hielt, sah ich mich gewohnheitsmäßig um, ob mir jemand gefolgt war, kletterte dann die drei Treppen in den dritten Stock hinauf und schloss mir mit meinem Schlüssel die Wohnung mit dem Namensschild ›Heinrich‹ auf. Die Mitbewohner kannten Walter Heinrich als Journalisten und wussten, dass er die Wohnung oft monatelang leer stehen ließ, wenn er wieder einmal auf Auslandseinsatz unterwegs war, und sie hatten sich auch daran gewöhnt, dass in seiner Abwesenheit einige seiner Bekannten die Wohnung nutzten. Wohldosiert eingesetzte Mitbringsel von den vielen Reisen hielten auch den im Erdgeschoss wohnenden Blockwart in der Germaniawelt bei guter Laune. Das war wichtig, denn die Funktion des Blockwarts hatte im Großdeutschen Reich große Bedeutung und stellte sicher, dass die allgegenwärtige Partei über alle Bewegungen der Staatsbürger gut informiert war. Der Zwilling des Blockwarts hier in der Europawelt war ein umgänglicher Mann, dessen Hauptinteresse zwar dem Fußball und dem FC Bayern galt, der aber das Leben seiner Mitbewohner mit ähnlicher Neugierde verfolgte wie dies – von Amtswegen – sein Zwilling im Nazireich tat. Zwilling blieb eben Zwilling, überlegte ich schmunzelnd.
In der Wohnung roch es muffig, sie war wohl lange nicht mehr gelüftet worden, dachte ich, öffnete trotz der draußen herrschenden Kälte das Küchenfenster und begab mich dann in den Transferraum. Dessen Tür musste ich erst mit dem Schlüssel aufschließen, was mir die Gewissheit vermittelte, dass er derzeit nicht in Benutzung war. Ich sperrte hinter mir wieder ab, trat in die Mitte des nur zwei auf zwei Meter großen Raumes, konzentrierte mich auf den großen Kristallspiegel mit dem eingeätzten Rautenmuster an der Wand, verspürte das vertraute Prickeln, die Andeutung von Ozongeruch, hörte noch das Echo des an einen Peitschenschlag erinnernden Knalls, mit dem die Luft in den von mir freigemachten Raum schoss, und war ›drüben‹.
Elende Schmerzen zuckten durch meinen Kopf, und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Bestimmt war ich ganz grün im Gesicht. Ich wusste schon, warum ich es im Normalfall vermied, in die Germaniawelt zu rutschen. Beim Rückweg stand mir das Gleiche noch einmal bevor – überdies würde ich an den Kopfschmerzen noch geraume Zeit Freude haben.
Ich verharrte einen Augenblick, lauschte nach ungewöhnlichen Geräuschen, die auf die Anwesenheit Fremder hätten deuten können, schloss die Tür auf und trat in den Flur, von dessen Ende hinter einer verschlossenen Tür Männerstimmen zu hören waren. Die Verblüffung musste mir ins Gesicht geschrieben sein, als ich am Küchentisch den Mann sitzen sah, mit dem ich erst gestern noch telefoniert hatte – aber das war natürlich nicht Bernd Lukas aus der Amerikawelt, das war sein Pendant, sein Zwilling. Er hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und unterhielt sich mit Ladox. Beide blickten auf. Ladox nickte mir zu und Lukas erhob sich höflich, um mich zu begrüßen. Er trug eine Kordhose und einen Pullover, der ihm sichtlich zu groß war, vermutlich eine Leihgabe aus dem Fundus von Ladox. Die Ähnlichkeit mit seinem Pendant war verblüffend, sah man einmal von seinen kurz geschnittenen Haaren und dem perfekt gezogenen Linksscheitel ab. Offenbar hatte er sich dem Stil seiner neuen Umgebung bereits angepasst.
»Ich heiße Jacques Dupont«, stellte ich mich vor. »Herr Heinrich hat Ihnen vermutlich bereits gesagt, wer ich bin.«
Sein
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