Nebenweit (German Edition)
und legte jedem von uns eine auf den Teller. »Lassen Sie es sich schmecken.« Er merkte, dass er unser Gespräch unterbrochen hatte, und zog sich gleich wieder zurück. Ich beobachtete Dupont, wie er zu Werke ging, und konstatierte, dass er wirklich mit den Eigenheiten des Lebens in Bayern vertraut war, zumindest was die kulinarische Seite anging. Fachgerecht zog er mit dem Messer einen langen Schnitt über die Weißwurst und begann dann, sie aus der Haut zu schälen. Perfekt, Methode zwei der drei für Bayern zulässigen …
»Gut, dann will ich versuchen, Ihnen eine Darstellung in Kurzform zu geben, ausführlicher machen wir es dann vielleicht bei einem zweiten Treffen.« Das entsprach ganz meinen Vorstellungen, ich wollte mir anhören, was er zu sagen hatte, und mir dann ein eigenes Bild machen. Damit wurde auch eine durchaus mögliche Konfrontation hinausgeschoben, auf die ich mich erst vorbereiten wollte.
»Es gibt eine dritte Parallelwelt, die meine«, setzte Dupont an. »Ich muss dazu tausend Jahre in die Vergangenheit greifen. Damals schlug ein riesiger Meteor im Pazifik ein, und aus der Sicht der damaligen Menschheit, die für das Millennium ja tatsächlich solches erwartet hatte, ging die Welt unter. Eine gewaltige Flutwelle raste über die ganze Welt und vernichtete bis tief ins Landesinnere hinein alles Leben. Und was die Flutwelle überstand, wurde von den zahllosen Meteoriten vernichtet, die sich bei Eintauchen des Hauptkörpers in die Erdatmosphäre von diesem gelöst hatte. Dann herrschte jahrelang Winter, will sagen, die Temperaturen fielen drastisch, weil der aufgewirbelte Staub und die hochgeschleuderte Asche der vielen Brände sich wie ein Leichentuch über die ganze Atmosphäre legten und die Sonne verdunkelten. Unser Volk, damals vielleicht zweihundert Menschen, überlebte in einem Hochtal in den Bergen von Schottland. Ob irgendwo sonst auf der Welt ebenfalls Menschen überlebten, wussten unsere Vorfahren nicht, es hätte sie auch nicht sonderlich interessiert, weil sie alle Hände voll damit zu tun hatten, am Leben zu bleiben. Binnen weniger Generationen waren sie etwa auf das Niveau der Bronzezeit zurückgesunken, wobei sie noch von Glück reden konnten, dass sie sich aus den Ruinen im flachen Land Metall besorgen und zu einfachem Werkzeug verarbeiten konnten.
Etwa um das Jahr 1500 Ihrer Zeitrechnung verließen sie ihre Heimat, die inzwischen so unwirtlich geworden war, dass weder die Jagd noch der Ackerbau ihren Nahrungsbedarf sicherstellen konnten. Sie siedelten sich im Tal des Flusses an, den Sie Seine nennen und wo in Ihrer Welt Paris steht. Bei uns heißt die Stadt beziehungsweise deren Überreste Luteta. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass meine Vorfahren nach wenigen Generationen zu Analphabeten geworden waren und ihre Überlieferung einzig und allein auf dem gesprochenen Wort basierte. Eine ›Kaste‹ von Trägern der Überlieferung bildete sich heraus, die das Wissen von Generation zu Generation weitergab. Ihre Aufgabe entsprach in etwa der der Druiden zur Zeit der Kelten, so nannten wir sie eben Druiden. Allerdings beschränken diese sich heutzutage nicht auf die Überlieferung der Geschichte, sondern nehmen überdies die Funktion wahr, die bei Ihnen Wissenschaftler versehen.« Er hielt inne und fuhr mit halblauter Stimme in einer Art Singsang fort, mir unverständliche Lautkombinationen von sich zu geben. Die erinnerten mich an die Sprache der Männer in der Hütte, nur dass mir dabei ein Rhythmus vergleichbar vielleicht dem Hexameter auffiel. »Das verstehen Sie natürlich nicht, das ist unsere Sprache.
Am Anfang fiel das Feuer vom Himmel,
weil die Götter uns zürnten.
Dann kam die Flut, die gewaltige,
die Wasser, die hinrafften Mensch wie Getier.
Und dann wieder das Feuer …
So etwa würde das in Ihrer Sprache klingen«, meinte er, wieder in normalem Tonfall. »Etwa dreihundert Strophen, und die muss jedes Kind bei uns auswendig lernen, auch heute noch, obwohl wir die Kunst des Lesens und Schreibens wieder beherrschen und in beschränktem Umfang auch Bücher herstellen können. Die gälische Tradition und Sprache haben wir bewusst gepflegt und nennen uns auch in Ihrer Sprache Gäler, weil wir in vielen Dingen nach deren Tradition leben. Aber das ist jetzt vielleicht nicht so wichtig. Vor über zweihundert Jahren, zur Zeit der Französischen Revolution in Ihrer Welt, geriet dann ein Mädchen erstmals in Kontakt mit Ihrer Welt, zuerst in Träumen, die immer
Weitere Kostenlose Bücher