Nebenweit (German Edition)
Wahrscheinlich hatte sie meine zunächst schläfrig klingende Stimme erschreckt. Ich war aufgestanden, hatte mich frisch gemacht und war nach einem ausgiebigen Frühstück zu einem langen Spaziergang durch den herbstlichen Bergwald aufgebrochen, der mir gutgetan hatte. Natürlich herrschte in meinen Gedanken immer noch ein heilloses Durcheinander aus Gälern, Dupont, seinem ›diplomatischen Dienst‹, der mir höchst rätselhaft erschien, seiner recht apodiktisch vorgetragenen Behauptung, ich sei für alle Zeit in dieser Welt gefangen, und den vielen, für mich neuen Fakten über diese Welt, die sich allmählich bei mir angesammelt hatten und für die ich immer noch nach einem verbindenden Schema suche.
Jetzt stand ich mit an die hundert Menschen hinter der Glasscheibe der Ankunftshalle im Flughafen und sah immer wieder auf die Anzeigetafel über mir, wo unverändert verkündet wurde, dass der Lufthansa-Flug Nummer 432 aus Tampa um 07:52 Uhr landen werde. Inzwischen strömten ständig Menschen aus aller Herren Länder aus dem weiten Portal, und ich vertrieb mir die Zeit damit, sie nach Kategorien zu sortieren: alerte Geschäftsleute, zielstrebig, schwungvoll, den Aktenkoffer schwingend und heftig telefonierend; mit Rucksäcken bepackte Jugendliche mit suchendem Blick und einem plötzlichen Aufleuchten in den Augen, wenn sie Vater oder Mutter entdeckten, die sie nach dem Urlaub an irgendeinem der Strände dieser Welt oder dem Au-pair-Monat im Ausland wieder in den Schoß der Familie zurückholten; das junge Mädchen, das strahlend den Freund mit Blumenstrauß in der Menge entdeckte; Elternpaare, mit Mühe Gepäck und wild umhertollende Kinder im Zaum haltend – eine Welt unterschiedlichster Gefühle und Motive, und doch niemand mit so zwiespältigen Gefühlen, wie sie mich peinigten, dachte ich.
In wenigen Minuten würde Carol hinter der Glaswand erscheinen und nach mir Ausschau halten, so wie ich das früher Dutzende Male getan hatte, wenn ich von einer meiner zahllosen Dienstreisen zurückgekehrt war und erfüllt von der Freude, wieder zu Hause angelangt zu sein, Carol, ›meine‹ Carol, in der Menge gesucht hatte. Die Carol, die jetzt gleich erscheinen würde, gehörte hierher, ganz anders als ich, und musste sich vielleicht für den Rest ihres Lebens damit abfinden, dass ich nicht der Mann war, der zu ihr gehörte, und mit dem sie doch künftig ihr Leben teilen würde. Aber würde ich das? Wollte ich, wollte sie das?
Ich schüttelte ruckartig den Kopf, wie um so müßige Gedanken aus meinem Bewusstsein zu verbannen, und spähte in die Menge. Und da war sie, das war unverkennbar Carols zielstrebiger Gang. Sie trug ein pinkfarbenes Top zu einem schmalen Rock, der ihre jugendlich gebliebene Figur vorteilhaft zur Geltung brachte, und wirkte überhaupt nicht, als hätte sie neun oder zehn Stunden Flug hinter sich, wie sie so auf ihren hohen Absätzen klappernd ihr Köfferchen hinter sich herzog. Jetzt entdeckte sie mich, und ein Lächeln huschte über ihre gebräunten Züge. Sie hatte Farbe bekommen, das stand ihr gut, betonte ihre hohen Backenknochen und die großen, braunen Augen, die jetzt aufgehört hatten zu suchen. Ich ging ihr entgegen, und als sie vor mir stand, ließ sie den Koffergriff einfach los und ihre Arme umfingen mich, drückten mich an sich. Der zarte Duft eines mir fremden Parfums hüllte mich ein und eine Haarsträhne kitzelte mich an der Nase.
»Schön, dass du wieder da bist«, begrüßte ich sie ein wenig verblüfft über die vertraute Begrüßung, verblüfft und zugleich froh, weil ich unserem Wiedersehen mit einiger Beklommenheit entgegengesehen hatte. »Gut siehst du aus, hast wohl viel Sonne getankt«, fuhr ich recht banal fort und konnte auch das nächste Klischee, »Hattest du einen guten Flug?«, nicht mehr verhindern, das mir automatisch über die Lippe kam.
»Danke, ja, Cindy und Greg lassen grüßen«, vollendete sie das Ritual, ließ mich los und fing laut zu lachen an. »Wie ein altes Ehepaar, nicht?«, schmunzelte sie und wollte nach ihrem Koffer greifen, aber den hatte bereits ich zu mir hergezogen. »Aber ganz ehrlich: Ich habe mich den ganzen Flug über auf dich gefreut, auf jemand, vor dem ich nicht lügen muss. Und alles andere habe ich verdrängt«, setzte sie dann hinzu, und ihre Miene wurde wieder ernst.
Als wir dann im Wagen saßen und uns in den dichten morgendlichen Berufsverkehr Richtung Süden eingereiht hatten, atmete sie tief durch. »Jetzt merke ich erst, wie
Weitere Kostenlose Bücher