Nebenweit (German Edition)
vertilgen wollen.
Ich sah Carol an, die, während ich las, auf dem Sofa Platz genommen und das Fernsehen ausgeschaltet hatte. »Der Mann beschreibt exakt das, was in meiner Welt geschehen ist«, brach es aus mir heraus. Ich war aufgestanden und hatte die Zeitung beiseite gelegt. Das war ein sicheres Zeichen meiner Erregung. Immer wenn mir etwas besonders naheging, musste ich mich bewegen, das wusste auch Carol.
»Dann könntest du ja auch so ein Buch schreiben«, meinte sie und lächelte dabei. »Du sagst doch immer, dass du dich langweilst. Das würde dir bestimmt mehr Spaß machen, als im Garten zu arbeiten.«
»Mag schon sein, aber das ist jetzt nicht der Punkt«, erwiderte ich unwirsch, entschuldigte mich aber gleich. »Tut mir leid, Carol, war nicht böse gemeint. Aber ist dir klar, was das bedeutet? Das kann kein Roman sein, dazu werden die Ereignisse nach allem, was dieser Artikel erkennen lässt, viel zu detailliert geschildert. Dieser Tanabe schreibt über Dinge, die er selbst erlebt hat oder die zumindest für ihn Realität sind. So wie sie es für mich sind. Das kann nur eines bedeuten …«
Ich sah Carol erwartungsvoll an.
»Du meinst, er kommt aus deiner Welt? Ist wie du hierher verschlagen?«
»Genau das. Ich muss mit dem Mann sprechen.«
Carol musterte mich stumm, überlegte und nickte dann. »Ja, das kann ich verstehen. Wenn das stimmt, was du vermutest, findet ihr vielleicht gemeinsam einen Weg …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber ich wusste auch so, was sie sagen wollte.
***
Es hilft, wenn man einmal Journalist war , dachte ich, als ich mich in der Lufthansa-Maschine nach Tokio in meinem Sessel zurücklehnte. Aus meiner Zeit in Japan hatte ich ein paar Kontakte gepflegt, und einige von ihnen gab es auch in dieser Welt. So hatte es nur einiger weniger Telefongespräche bedurft, um mit Tanabe-san in Verbindung zu treten. Ich hatte ihm vorgeflunkert, ich sei Literaturagent und daran interessiert, sein Buch im Deutschen Bund zu verkaufen. Zuerst hatte er mich an seinen Agenten verwiesen, aber ich hatte ihn davon überzeugt, dass mein Interesse nicht nur merkantiler, sondern durchaus auch literarischer Natur sei. Das hatte ihn wohl überzeugt. Dass er ausgezeichnet Englisch sprach und ich unsere Telefonate mit ein paar japanischen Brocken gewürzt hatte, die mir aus meiner Tätigkeit vor fünfzehn Jahren noch geblieben waren, hatte vielleicht dazu beigetragen, dass er sich schließlich bereit erklärt hatte, sich mit mir am Dienstagabend im Dai-Ichi-Hotel zu treffen.
Glücklicherweise hatte Japan vor ein paar Jahren den Visumzwang für Bürger der Europäischen Föderation aufgehoben, vermutlich weil ›unsere‹ Regierung sich vor Jahren im Völkerbund als erste für eine pragmatische Haltung gegenüber dem Kaiserreich entschieden und sich aktiv darum bemüht hatte, das durch die Annexion weiter Teile Chinas zur Weltmacht gewordene Kaiserreich Japan wieder in die Völkerfamilie aufzunehmen. Britannia mit seinen ausgedehnten Wirtschaftsinteressen im Pazifikraum hatte sich da schwerer getan; erst in letzter Zeit hatte auch in den Beziehungen zwischen London und Tokio ein gewisses Tauwetter eingesetzt.
Wir waren vor einer halben Stunde in München gestartet. Die Flugbegleiterin stand jetzt mit dem Getränkewagen neben meinem Platz und bot mir zu trinken an. Ich entschied mich für ein Glas Champagner und studierte dann die Speisekarte. Unter mir zog die grüne Landschaft Mitteldeutschlands dahin. Da wir der Sonne entgegenflogen, würde es bald dunkel werden, sodass ich von den Weiten Russlands und später Sibiriens nur wenig zu sehen bekommen würde. Als ich das erste Mal nach Tokio geflogen war, voll Begeisterung und Tatendrang meinem ersten wirklich wichtigem Einsatz in einer der Metropolen meiner Welt entgegensehend, hatte es diese Flugroute noch nicht gegeben. Die Welt war vom Kalten Krieg in feindliche Lager geteilt gewesen, und die damalige Sowjetunion hatte westlichen Maschinen den Überflug ihres Territoriums nicht erlaubt. Die alten Boeing 747 waren damals nach Norden geflogen, hatten den Nordpol überquert und waren in Anchorage in Alaska am Morgen der Abreise zwischengelandet, um dann am gleichen Morgen in Tokio anzukommen. Verrückt, ebenso verrückt wie die vielen japanischen Reisenden, hauptsächlich Hochzeitspärchen, die sich in dem recht spartanischen Flughafen von Anchorage entweder vor der Nase ihres Jumbojets oder dem riesigen ausgestopften Grizzlybären im Foyer
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