Nebenwirkungen
heimlichtuerische, verschwiegene Atmosphäre. Und immer zu warm. Erdrückend. Und die Essentabletts und die Bettpfannen und die Alten und Lahmen, die in ihren weißen Nachthemden durch die Korridore schlurften in der drückenden, mit exotischen Keimen geschwängerten Luft. Und was ist, wenn alle die Theorien, daß Krebs ein Virus ist, stimmen? Ich mit Meyer Iskowitz im selben Raum? Wer weiß, ob’s nicht ansteckend ist? Seien wir ehrlich. Was zum Teufel wissen sie schon über diese gräßliche Krankheit? Nichts. Und eines Tages finden sie dann raus, daß eine ihrer zugegebenermaßen zigtausend Formen von Iskowitz übertragen wird, wenn er mich anhustet. Oder meine Hand an seine Brust drückt. Der Gedanke, Iskowitz könne vor seinen Augen den letzten Schnaufer tun, entsetzte ihn. Er sah seinen einst kraftstrotzenden, jetzt ausgemergelten Bekannten (plötzlich war er ein Bekannter, nicht wirklich ein Freund) seinen letzten Atemzug auskeuchen und mit den Worten "Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht!" die Hände nach Mendel ausstrecken. Großer Gott, dachte Mendel, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Ich habe keine Lust, Meyer zu besuchen. Und warum zum Teufel soll ich auch? Wir waren nie eng befreundet. Du liebe Güte, ich habe den Menschen einmal die Woche gesehen. Ausschließlich beim Kartenspiel. Wir haben kaum mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt. Er war ein Pokerspieler. In fünf Jahren haben wir uns kein einziges Mal außerhalb des Hotelzimmers gesehen. Jetzt stirbt er, und mit einemmal ist es meine Pflicht, ihn zu besuchen. Ganz plötzlich sind wir alte Kumpels. Gut befreundet wohl auch noch. Ich meine, du liebe Güte, er war zu allen anderen in der Runde viel herzlicher. Wenn überhaupt, dann stand ich ihm am wenigsten nahe. Sollen sie ihn doch besuchen. Schließlich, wieviel Trubel hat so ein kranker Mensch denn nötig? Teufel noch mal, er liegt im Sterben. Er will Ruhe, keinen Aufmarsch hohlklingender Trostbringer. Sowieso kann ich heute nicht gehen, weil ich Kostümprobe habe. Was glauben sie eigentlich, was ich bin, ein Nichtstuer? Ich bin gerade Regieassistent geworden. Ich habe an eine Million Dinge zu denken. Und die nächsten paar Tage sind auch schon ausgebucht, denn da ist die Weihnachtsshow, und wir haben hier ein Irrenhaus. Also, ich mach’s nächste Woche. Kommt’s denn darauf an? Ende nächster Woche. Wer weiß? Lebt er überhaupt noch bis Ende nächster Woche? Na, wenn ja, bin ich da, und wenn nicht, was zum Teufel macht’s dann? Wenn das ’ne hartherzige Einstellung ist, dann ist das Leben hartherzig. Inzwischen muß der erste Auftritt von der Show ein bißchen aufgemotzt werden. Zeitnaher Humor. Die Show braucht mehr zeitnahen Humor. Nicht so viele alte Hüte.
Mit der einen oder anderen Ausrede kam Lenny Mendel zweieinhalb Wochen darum herum, Meyer Iskowitz zu besuchen. Als ihm seine Verpflichtung immer drängender zu Bewußtsein kam, fühlte er sich sehr schuldig, und noch viel schlechter, als er sich dabei ertappte, daß er beinahe hoffte, er erhalte die Nachricht, es sei vorüber und Meyer gestorben, damit wäre er aus dem Schlamassel. Es ist doch sowieso sicher, argumentierte er, warum also nicht gleich? Warum soll der Mann denn noch weiterleben und sich quälen. Ich meine, ich weiß, es klingt herzlos, dachte er im stillen, und ich weiß, ich bin labil, aber manche Leute kommen halt mit so was besser zurecht als andere. Sterbende besuchen ist so was. Es ist niederschmetternd. Und als hätte ich nicht schon genug im Kopf.
Aber die Nachricht von Meyers Tod kam nicht. Nur sein Schuldgefühl vergrößernde Bemerkungen seiner Freunde in der Pokerrunde.
"Ach, du hast ihn noch gar nicht besucht? Das solltest du aber wirklich. Er kriegt so wenig Besuch und ist so dankbar."
"Er hat immer zu dir aufgesehen, Lenny."
"Jaja, Lenny mochte er immer."
"Ich weiß, du hast mit der Show ungeheuer viel zu tun, aber du solltest doch versuchen, es dir einzurichten, daß du Meyer mal besuchst. Schließlich, wieviel Zeit hat der Mann noch zu leben?"
"Ich geh morgen", sagte Mendel, aber als es soweit war, verschob er es wieder. Die Wahrheit ist, als er schließlich genug Mut gesammelt hatte, um im Krankenhaus einen zehnminütigen Besuch zu machen, geschah das mehr aus dem Bedürfnis nach einem Bild von sich, mit dem er leben könne, als aus dem auch nur geringsten Mitleid mit Iskowitz. Mendel war klar, wenn Iskowitz stürbe und er zu ängstlich oder angewidert gewesen wäre,
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