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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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»Ganz sicher sogar.«
     

      
     
39
     
    Es war nicht das erste Mal, dass Dr. Stefan Bartels sich fragte, in welchen der von Dante Alighieri beschriebenen sieben Höllenkreise er wohl hineingeraten war. Seit seinem Erwachen vor wenigen Stunden bemühte er sich, sein linkes Auge zu öffnen, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Blut aus einer Platzwunde schien es verklebt zu haben. Alle Bemühungen, es durch Zwinkern oder Reiben an der Schulter zu öffnen, waren fehlgeschlagen. Seine Arme waren mit einem kräftigen Seil hinter einem Holzpflock zusammengebunden worden und ließen sich kaum bewegen. Jeder Versuch, sich zu befreien, hatte damit geendet, dass sich der Strick noch enger um seine Handgelenke gezogen hatte. Besonders beunruhigend waren die monotonen Gesänge, die von irgendwo jenseits des schwarzen Monolithen zu ihm herüberwehten. Der seltsame Stein war das Erste gewesen, was Stefan Bartels nach dem Erwachen aus seiner Ohnmacht vor einigen Stunden zu Gesicht bekommen hatte. Ein fettig glänzender Brocken, etwa vier Meter breit und einen Meter fünfzig hoch, der aus purer Schwärze zu bestehen schien. Über seine Beschaffenheit konnte Bartels nur Vermutungen anstellen, doch er tippte auf Obsidian, ein Silikat vulkanischen Ursprungs -schwarzes Glas, wenn man so wollte. Wie er in diese Höhle geraten war und zu welchem Zweck, das war eine Frage, gegen deren Antwort sich der Geist des Chemikers sträubte.
    Seine zersplitterten Erinnerungen lasen sich wie Bruchstücke eines Fiebertraums. Man hatte versucht, die Scheibe zu stehlen. Er war misshandelt und entführt worden - von Wesen, die nicht menschlich waren. Die Erinnerung an ihre kalten Augen, ihre gelben Fangzähne und ihr stinkendes Fell ließ die Wunde an seinem Kopf pochen, als würde jemand mit einem Messer darin herumstochern. Sein Gedächtnis hatte Schaden genommen, so viel war klar. Er konnte sich jedoch noch erinnern, wie ihn die Wesen aus den Werkstätten hinaus und über den verschneiten Parkplatz zum Nordtor geschleift hatten. Hatte dort nicht ein weißer Transporter auf sie gewartet? Doch, so war es gewesen. Auf einen Wink des Schamanen hin hatten sich die Wolfswesen winselnd ins Innere des Fahrzeugs verdrückt, während er sich zu Bartels hinuntergebeugt und ihm ein bronzefarbenes Fläschchen zwischen die Lippen gedrückt hatte, aus dem irgendeine ölige, bittere Flüssigkeit in seinen Mund gesickert war. Danach folgte Schwärze. Eine zeitlose, gnädige Schwärze.
    Der Durst war es gewesen, der ihn letztendlich aus seiner Ohnmacht geweckt hatte. Sein eigenes Stöhnen klang ihm noch in den Ohren. Er war wieder zu Bewusstsein gekommen, weil etwas in seinen Mund gesteckt wurde, ein Halm oder Schlauch. Vermutlich hatte sein Stöhnen die Entführer veranlasst, ihm etwas zu trinken zu geben. Zuerst wollte er sich wehren, doch dann schmeckte er kühles Wasser. Was für ein Labsal. Gierig hatte er an dem Schlauch gesaugt, bis sein Durst gestillt und der fürchterliche Nachgeschmack des Betäubungsmittels abgeklungen war. Das war vor einigen Stunden gewesen. Seither war er wach und beobachtete, was um ihn herum vorging. Durch das halb geöffnete Lid seines rechten Auges sah er mehrere Schatten, die über die Höhlenwände tanzten. Aufs merkwürdigste verzerrt, wirkten sie, als wären sie völlig losgelöst von ihren Besitzern - gestaltlose Wesen in einem Traum aus Licht und Dunkelheit. Natürlich war Bartels sich bewusst, dass ihm seine Sinne einen Streich spielten, dass die Träger dieser Schatten sich auf der ihm abgewandten Seite des Blockes befinden mussten. Doch obwohl ihm klar war, dass die unwirkliche Umgebung in Verbindung mit den Nachwirkungen des Betäubungsmittels diesen Effekt hervorrief, war es schwer, sich davon zu befreien. Letztendlich aber war es seine Neugier, die ihm dabei half, Traum und Realität voneinander zu trennen. Was taten diese Gestalten? Warum rezitierten sie immer dieselben Formeln und vollführten immer dieselben Gesten? Und was um Himmels willen war das für eine merkwürdige Sprache? Bartels, der bereits viel herumgekommen war, hatte noch nie dergleichen gehört. Weder in Australien noch in Südostasien, weder in Russland noch in Afrika oder Südamerika, ja nicht einmal bei den Indianern Nordamerikas oder den Inuit Alaskas. Es war, als hörten seine Ohren eine Sprache, die seit Tausenden von Jahren nicht mehr gesprochen worden war. Die wichtigste Frage aber war, was das alles mit ihm zu tun hatte. Er war sich

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