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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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und dann verkrümeln wir uns wieder ins Bett.«
    Cynthia schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist etwas dazwischengekommen. Michael hat angerufen.«
    Karl runzelte die Stirn. Ein Anruf ihres alten Wohltäters zu so früher Stunde? Es war noch nicht mal sieben. Das Pochen seiner Narbe erinnerte ihn daran, warum er überhaupt aufgestanden war. Sollte er Cynthia davon erzählen? Er entschied sich dagegen.
    »Wie schön«, sagte er mit gespielter Leichtigkeit. »Was erzählt er denn so?«
    »Er sagt, dass wir sofort zu ihm kommen sollen. Er sagt, es sei von großer Wichtigkeit.«
    »Heute? Unmöglich, ich habe zu tun. Ich muss diese Skulptur fertigbekommen. Ich bin ohnehin schon hoffnungslos im Rückstand.«
    »Ich habe mir für heute freigenommen«, sagte Cynthia, und ein milder Vorwurf spielte in ihrer Stimme. »War ein hartes Stück Arbeit, meine Kollegin und den Bewährungshelfer davon zu überzeugen, dass es wichtig ist. Aber wenn es nicht wichtig wäre, hätte Michael uns nicht darum gebeten.« »Hat er gesagt, worum es geht?«
    »Das weißt du genau. Haben wir nicht bereits ein Dutzend Mal darüber gesprochen? Wie es scheint, hat sich endlich eine Möglichkeit ergeben, unseren Plan in die Tat umzusetzen.« »Michaels Plan, nicht meiner«, erwiderte Karl hitzig. »Ich verspüre keine Lust, die alten Geschichten wieder aufzuwärmen.«
    Sie hielt den Kopf schief. »Hast du nicht bei deinem letzten Besuch beteuert, wie wichtig es für dich wäre, der Sache auf den Grund zu gehen? Um mit der Vergangenheit endlich abzuschließen? War das alles nur hohles Gerede?«
    »Seitdem sind zwei Jahre vergangen, Cyn. Zwei Jahre, in denen sich viel getan hat. Auf mich warten ein Job, Freunde und eine Zukunft. Endlich sehe ich mal einen Silberstreif am Horizont. Ich will mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben.« Karl wusste, wie undankbar das klingen musste. Es war Michael gewesen, der ihm all das ermöglicht hatte. So irrational es auch sein mochte, aber bei dem Gedanken an seinen Freund spürte er Eifersucht in sich aufsteigen. Cynthias verschlossener Blick verstärkte dieses Gefühl. »Du bist ihm etwas schuldig, erinnerst du dich?« Ihre Stimme hatte einen harten Klang. »Vor einer Woche sprachen wir noch davon, wie wir unsere Schuld am besten abtragen könnten. Jetzt ergibt sich mal eine Chance, und du kneifst? Ich hätte wirklich mehr von dir erwartet.«
    »Ah, so ist das also. Der große Herr und Meister ruft, und wir kommen angekrochen. Scheint alles noch genauso zu sein wie damals.« Er schob die Tasse Kaffee von sich. Cynthia sagte nichts, stand nur da, die Fäuste geballt, das Gesicht trotzig erhoben. Karls Erinnerungen an ihre harmonische Woche fielen in sich zusammen. Er hatte die alten Wunden fast vergessen, doch offenbar genügte ein einziger Anruf, um sie wieder aufbrechen zu lassen. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht war die Sache zwischen ihm und Cynthia doch nur eine vorübergehende Episode gewesen - eine Illusion - auch wenn die Vorstellung weh tat. »Ich möchte mich nicht mit dir streiten«, sagte er und schickte sich an, wieder ins Bett zu gehen.
    Er hatte sich noch nicht ganz umgedreht, als er aus dem Augenwinkel heraus etwas sah. Es war unscheinbar, doch im Zusammenhang mit den Ereignissen dieses Morgens durchaus bedeutsam.
    »Was hast du da?«, fragte er und deutete auf einen kleinen roten Fleck an ihrer rechten Nackenpartie.
    »Das?« Sie drehte sich um und zeigte ihm die Stelle. »Das war der Grund, warum ich aufgewacht bin. Muss sich über Nacht wohl entzündet haben.«
    Karl stand da, die Augen vor Schreck geweitet. Unterhalb von Cynthias Haaransatz war ein großer roter Fleck in Form einer gewundenen Schnecke zu sehen. Der Abdruck eines Brandeisens.
    Karl griff sich an den Hals. Seine Narbe brannte wie Feuer.
     

      

      
     
41
     
    Hannah lenkte ihren Wagen über die kiesbedeckte Auffahrt vor Michaels Haus. Über Nacht war es warm geworden. Der Frühling war zurückgekehrt. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und erste Insekten surrten durch die Morgenluft. Der Schnee war bis auf ein paar schmutzige Reste zusammengeschmolzen, doch selbst die würden im Laufe des Vormittags verschwinden, wenn man den Aussagen des lokalen Wetterberichts Glauben schenken durfte. Auch das merkwürdige Leuchten über dem Berg hatte aufgehört, ein Phänomen, das die Meteorologen fast noch mehr in Erstaunen versetzte als sein plötzlicher Beginn. Alles schien so, wie es sich für die letzten Tage im

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