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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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eine Klaue. Eine riesige, rotglühende, abscheuerregende Klaue. Ihre Finger zuckten in der Glut, krümmten und wanden sich. Jetzt konnte er sogar den Arm erkennen. Mächtig, stark und muskulös schob er sich immer weiter aus dem Block. Bartels konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Etwas Uraltes und Mächtiges war im Begriff, in die Welt zu treten. Ein Wesen aus einer anderen Dimension.
    Der Arm hatte jetzt beinahe die Höhlendecke erreicht. Die Finger der Klaue tasteten über die Oberfläche des Steins. Sie kratzten, scharrten, fühlten. Sie suchten etwas. Plötzlich hielten sie inne. Sie verharrten in der Luft, dann schössen sie nach unten, direkt in Bartels' Richtung.
    Der Chemiker fühlte, wie ihn etwas mit der Wucht einer Dampframme traf. Glühende Finger bohrten sich in seine Brust, umschlossen sein Herz und ließen es aufglühen. Ein Feuer, das nicht von dieser Welt war, umhüllte seinen Körper, während die Klaue mit furchtbarer Entschlossenheit in ihn eindrang und ihm die Seele raubte.
    Hoch über dem Berg erlosch das Licht.
     
       
      
      
40
    Dienstag, 29. April
     
    Karl Wolf erwachte mit einem stechenden Schmerz im Genick. Zuerst glaubte er, etwas habe ihn gestochen, doch seine Nachforschungen blieben ergebnislos. Nichts deutete auf einen Insektenstich hin. Abgesehen davon, dass es dafür noch viel zu früh im Jahr war, konnte er nirgendwo einen Hinweis auf die Anwesenheit eines Krabblers entdecken. Er richtete sich auf und griff sich an den Hals. Die Haut unterhalb seines Haaransatzes brannte wie Feuer. Sie war an dieser Stelle aufgewölbt und fühlte sich an, als wäre sie entzündet. Er hob seine Beine aus dem Bett, stand mühsam auf und wankte zum Spiegel. Langsam tröpfelten die Erinnerungen zurück in sein vernebeltes Hirn. Die Erinnerung an den vorangegangenen Abend - an das Saufgelage, das er zusammen mit Cynthia anlässlich ihrer ersten Woche in Freiheit abgehalten hatte. Der Blick in den Spiegel ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Ein roter, hässlicher Fleck breitete sich über die gesamte Nackenpartie aus. Er tippte mit dem Finger darauf und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Das Fleisch fühlte sich an, als wäre er mit einem Brandeisen traktiert worden. Die Verbrennung wirkte frisch, obwohl das gar nicht möglich war. Es war eine alte Narbe, und sie hatte ihm nie Probleme bereitet. Er hatte schon fast vergessen, dass es sie überhaupt gab. Hatte sie sich entzündet? War so etwas überhaupt möglich, nach all den Jahren?
    »Cynthia?« Er drehte sich um. Erst jetzt bemerkte er, dass das Bett neben ihm leer war. Seine Freundin war nirgendwo zu sehen. Vielleicht war sie bereits aufgestanden und auf dem Weg zum Bäcker. Bei dem Gedanken an sie schwand der Schmerz. Eine Woche war es jetzt her, dass man sie entlassen hatte. Eine Woche, in der sie jede freie Minute miteinander verbracht hatten. Er konnte sich immer noch nicht erklären, was eigentlich geschehen war. Auf einmal war Cynthia in sein Leben getreten, und es war, als wäre sie niemals fort gewesen. All seine Wünsche und Sehnsüchte hatten sich mit einem Mal erfüllt. Sie war zu seiner Freundin geworden, zu seiner Vertrauten, zu seiner Geliebten. Bei ihr fühlte er sich geborgen, verstanden und gehalten - ganz abgesehen davon, dass der Sex mit ihr sensationell war. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum aus ihnen damals eigentlich kein Paar geworden war. Gewiss, sie war damals mit Michael befreundet gewesen, aber war es wirklich nötig, dass sie beide durch die Hölle hatten gehen müssen, nur um sich am Ende des Weges wieder zu treffen? Nun, vielleicht war Heilung ohne Schmerz unmöglich. Vielleicht lag genau darin das Geheimnis. Ein Geräusch drang von unten zu ihm herauf. Er schob den Gedanken an die brennende Stelle beiseite, zog sich Hose und T-Shirt über und lief barfuß die Treppen hinunter. Cynthia stand an der Spüle und machte den Abwasch. Der belebende Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase. Sie schien völlig versunken in ihre Arbeit, doch als er am untersten Treppenabsatz ankam, drehte sie sich zu ihm um. Ihr Gesicht drückte Besorgnis aus. Karl stutzte. Kein Kuss? Kein Guten Morgen, mein Schatz? Besorgt fragte er: »Was machst du hier so früh?« »Ich konnte nicht schlafen«, lautete die Antwort. »Ich dachte, ich lass dich in Ruhe und mache mich stattdessen hier nützlich.«
    »Das hätten wir doch zusammen machen können. Komm, ich mach uns zwei Tassen Kaffee,

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