Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
im Klaren darüber, dass ihm eine wichtige Rolle zugedacht war, vermutlich eine unangenehme. Merkwürdigerweise versetzte ihn der Gedanke nicht in Panik. Seine Sinne waren angespannt, aber frei von Angst. Vielleicht eine der Nebenwirkungen der Substanz, die er zu trinken bekommen hatte. Wie auch immer, er war dankbar dafür.
    Endlich löste sich eine Figur aus dem Schatten jenseits des Felsblocks, eine weibliche Gestalt. In gebeugter Haltung durchkreuzte sie kurz sein Sichtfeld, ehe sie wieder im Blickschatten verschwand. Als Nächstes tauchte ein Mann auf. Hoch aufgerichtet stand er da und blickte zu dem Gefangenen herüber. Bartels lief ein Schauer über den Rücken, als er erkannte, dass es derselbe Mann war, der ihm vor dem Museum aufgelauert hatte. Der Mann mit dem Lieferwagen, der Schamane. Unschwer zu erkennen an den Tierfellen und dem Rehgeweih auf seinem Kopf. Der Kerl war jünger, als er zunächst angenommen hatte, und recht muskulös. Seine hohen Schuhe verliehen ihm eine beachtliche Größe. Die Frau hingegen schien deutlich älter zu sein. Klein und gebeugt wirkte sie, als habe sie die sechzig bereits hinter sich gelassen. Die beiden bildeten einen merkwürdigen Kontrast, wie sie mit stummer Besessenheit ihre Rituale vollführten. Bartels zweifelte keine Sekunde daran, dass er einer Sekte von Wahnsinnigen in die Hände gefallen war, einem Schamanenzirkel, der sich irgendwelchen vorzeitlichen Riten verschrieben hatte. An welchem Ort sie sich hier befanden und warum ihm von einer solchen Vereinigung noch nichts zu Ohren gekommen war, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Leute mit derart bizarren Praktiken konnten nicht lange im Verborgenen agieren. Ein solcher Kult wäre ein gefundenes Fressen für die Presse oder das Fernsehen gewesen. Abgesehen davon, dass es keinen Ort gab, an dem sie sich lange verstecken konnten. Nicht in Deutschland.
    Bartels fühlte, wie seine Kopfverletzung wieder zu schmerzen begann. Das Ritual schien sich dem Ende zu nähern. Die Gesänge erstarben, die Bewegungen wurden langsamer und verebbten schließlich ganz. Stille kehrte ein. Der Schamane und die Priesterin wichen langsam und mit respektvoller Haltung von dem Monolithen zurück. Ihre Augen fest auf den Stein geheftet und sich bei den Händen haltend, starrten sie auf den Block. Sie wirkten wie zwei Kinder, die ein Feuer entfacht hatten und mit überraschtem Blick dabei zusahen, wie die Flammen auf umliegende Büsche und Bäume übergriffen. Und tatsächlich: Stefan Bartels glaubte zu spüren, wie es merklich wärmer wurde. Eine unnatürliche Hitze stieg aus dem Boden. Bildete er sich das ein, oder fing die Luft um den Monolithen tatsächlich an zu flirren? Ein Effekt, wie man ihn auf asphaltierten Straßen beobachten konnte, auf die die Mittagshitze knallte. Der Stein wirkte, als würden sich Pfützen auf seiner Oberfläche bilden, Tropfen von flüssigem Gold. Und als sei das noch nicht genug, begann es tief im Inneren des schwarzen Steins zu leuchten. Erst in einem tiefen Violett, dann stetig heller werdend. Als das Rot in ein Orange überging, wurde die Hitze so groß, dass sie den Schweiß auf Bartels' Stirn trieb. Er atmete schwer.
    Mit vor Entsetzen geweiteten Augen gewahrte er, dass der Schamane und die Priesterin verschwunden waren. Sie hatten sich in irgendeinen der vielen Stollen zurückgezogen und ihn seinem Schicksal überlassen. Er war allein. Oder etwa doch nicht? Die Helligkeit hatte zugenommen, so dass er in einer Nische auf der gegenüberliegenden Seite die Umrisse eines weiteren Gefangenen ausmachen konnte. Augenscheinlich eine Frau. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Er versuchte zu rufen, doch seine Kehle war wie ausgetrocknet. Mehr als ein Krächzen brachte er nicht zustande. Er zerrte an dem Seil, vergeblich.
    Im Block begann es zu knacken. Er sah jetzt nicht mehr aus wie ein Stein, sondern wie ein glühendes Stück Kohle. Die Hitze, die von ihm ausging, war mörderisch. Bartels glaubte zu spüren, wie die feinen Haare auf seiner Haut verdampften. Mit Entsetzen im Blick bemerkte er, wie sich aus den brennenden Luftschichten oberhalb des Blocks eine Form herausbildete. Zuerst war sie noch unförmig, doch mit der Zeit wurden Konturen sichtbar. Bartels meinte Spitzen zu erkennen, die feurig in die Luft stießen. Was in Gottes Namen war das? Ein Dreizack? Mit angehaltenem Atem verfolgte er, wie sich das Gebilde aus Luft und Feuer immer deutlicher manifestierte. Das war kein Dreizack, es war

Weitere Kostenlose Bücher