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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Fußspitze. Die alten Scharniere knarrten, und die Tür schwang auf. Grüngefärbtes Sonnenlicht flutete herein und warf einen rechteckigen Schatten auf den Boden. Von draußen war kein Laut zu hören. Es war still. Zu still, dachte er. Nichts war zu hören, kein Rascheln, kein Vogelgezwitscher, ja nicht einmal das Rauschen der Baumwipfel. Es war, als würde der ganze Wald die Luft anhalten. Zentimeterweise schob sich der Kommissar an die offene Tür heran. Er sicherte erst nach rechts, dann nach links. Niemand da. Trotzdem: Irgendetwas stimmte nicht. Der Gestank hing über dem Wald wie ein Leichentuch. Vorsichtig schob er den Kopf zur Tür hinaus und sah sich um. Wohin er auch blickte, nur helles, frühlingshaftes Grün. Durch die Äste und Zweige des Unterholzes konnte er mehrere Meter weit sehen. Weit genug, um vor einem Überraschungsangriff gefeit zu sein. Er trat einen Schritt vor, drehte sich blitzschnell um und riss seine Waffe hoch. Er war zu clever, um sich durch einen feigen Angriff von oben überrumpeln zu lassen. Doch das Dach war verlassen. Pechstein umrundete die Hütte und vergewisserte sich noch mal. Nichts.
    Mit mulmigem Gefühl ging er ein paar Schritte in den Wald. Wo kam nur dieser verdammte Gestank her? So, wie das hier roch, müsste er eigentlich knietief in Stinkmorcheln waten. Aber es war kein einziger Pilz zu sehen. Wie auch, es war ja Frühling. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Blätterdach und warfen sich zu Treppen aus Licht auf. Ein paar Insekten taumelten durch die Helligkeit und verschwanden wieder im Dunkel des Waldes.
    Er blieb stehen. Er hatte das Gefühl, als würde die feuchte Schwüle ihm die Kehle zuschnüren. Den obersten Kragenknopf lockernd, sah er sich um. Der Wald war verlassen. Außer ihm war niemand hier.
    Er beschloss zurückzugehen, seine Sachen zusammenzupacken und, so schnell es ging, von hier zu verschwinden. Den Anruf konnte er auch von unterwegs erledigen. Er war noch nicht weit gekommen, als sich ein Schatten aus den Wipfeln der Bäume auf ihn herabsenkte. Aus dem Augenwinkel heraus sah er eine große dunkle Form über den Boden rasen, genau auf ihn zu. Er drehte sich zur Seite und feuerte. Einmal, zweimal. Die Schüsse zerrissen die Stille. Zu spät begriff er, dass es nur ein Schatten war, auf den er gefeuert hatte. Der Angriff selbst erfolgte aus einem der dichtbelaubten Bäume. Pechstein wurde von oben getroffen. Hart.
    Er spürte, wie das Gewicht ihm die Luft aus der Lunge quetschte. So heftig wurde er nach unten gedrückt, dass seine Beine unter dem plötzlichen Gewicht nachgaben. Mit dem Kopf voran stürzte er auf die Erde. Der Waldboden war weich und gab nach. Das war sein Glück, er hätte den Stoß sonst nicht überlebt. Eine Woge von Gestank hüllte ihn ein und drohte ihm die Sinne zu rauben. Aus einem blinden Reflex heraus bäumte er sich auf und rollte nach links. Der Angreifer hatte mit diesem Ausbruch offenbar nicht gerechnet. Ein kurzer Augenblick des Zögerns, dann griff er wieder an. Pechstein lag jetzt zwar auf dem Rücken, aber sein rechter Arm war frei. Blitzschnell zog er den Abzug durch. Drei kurz hintereinander abgefeuerte Schüsse lösten sich aus der Makarov. Jaulend wurde der Angreifer zurückgeschleudert. Blut spritzte aus einer Wunde nahe am Hals. Pechstein hob die Pistole ein zweites Mal, doch diesmal hatte der Angreifer die Aktion vorausgesehen. Mit einer brutalen Bewegung schlug er dem Kommissar die Waffe aus der Hand. Dann richtete er sich drohend auf. Pechstein stöhnte vor Entsetzen. War das ein Mensch? Er kannte die Berichte, hatte alle Untersuchungsergebnisse gelesen und war über die Ergebnisse bestens informiert. Und doch war er nicht fähig, die Worte auf dem Papier mit dem Wesen in Einklang zu bringen, das da vor ihm stand. Groß war es - an die zwei Meter - und bepackt mit Muskeln. Bläulich schimmernde Adern und Sehnen traten unter der dreckverkrusteten und narbenübersä-ten Haut hervor. Das war ein Gegner, mit dem er es ohne Waffe nicht aufnehmen konnte. Ein unheilvolles Heulen kam aus dem zahnbewehrten Maul.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte Pechstein sich um und humpelte los. Er lief, so schnell er konnte. Äste und Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Mehr als einmal blieb er an irgendeiner Wurzel hängen. Sein rechtes Bein schien bei dem Angriff etwas abbekommen zu haben. Jeder Schritt wurde von einem dumpfen Schmerz in seinem Knie quittiert. Das Adrenalin, das durch seine Adern pumpte, half

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