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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Wesen verschwunden waren. Er sah aus, als habe er ein Gespenst gesehen. Sie folgte seinem Blick und erstarrte.
    Was sie dort im hinteren Teil der Höhle sah, verschlug ihr die Sprache.
     
     
     
     
59
     
    Der Schamane«, flüsterte Hannah. Der Mann war hochgewachsen und schlank, soweit sie das unter der Schicht aus Fellen und Leder beurteilen konnte. Sein Gesicht war mit schwarzer und blauer Farbe bemalt, sein Kopf von einem Bärenschädel mit den Hörnern eines Rehbocks gekrönt. Arme und Beine waren mit ledernen Bändern umwickelt. Die Füße steckten in Schuhen aus Birkenrinde, deren hohe Sohlen dem Mann eine Körpergröße von annähernd zwei Metern verliehen. Mit seinen breiten Schultern und dem massigen Eichenstab in der Rechten war er eine imposante Erscheinung. Im Gegensatz zu den Wolfswesen war er definitiv ein Mensch.
    Langsam, mit schweren Schritten, den Körper auf seinen Stab gestützt, kam er zu ihnen herüber. Er sagte kein Wort, ging nur an ihnen vorbei und betrachtete jeden Einzelnen von ihnen aufmerksam. Aus seinen Augen war keine Gefühlsregung herauszulesen. Weder schien er wütend zu sein, noch ließ er irgendein Zeichen von Erbarmen oder Mitleid erkennen. Es schien, als betrachte er sie ohne jede Regung - nüchtern und wertneutral, wie ein Wissenschaftler seine Versuchsobjekte. Als er ein zweites Mal an ihr vorbeiging, blieb er stehen. Ausgerechnet. Was fanden nur alle an ihr, dass sie ihr diese besondere Aufmerksamkeit schenkten? Hannah spürte erneut Panik in sich aufsteigen. Der Schamane beugte sich zu ihr vor, bis seine Augen nur noch einen halben Meter von ihren entfernt waren.
    »Fürchte dich nicht.« Überrascht hob sie den Kopf. Sie kannte diese Stimme.
    Und jetzt erkannte sie auch die Augen. Inmitten des schwarzbemalten Gesichtes wirkten sie heller als gewöhnlich. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Michael.«
    Der Mann deutete ein Nicken an. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Er zog eine Klinge und trat hinter sie. Die Fesseln spannten sich kurz, dann war sie frei. Sie blickte auf ihre Hände, als könnten ihr diese eine Erklärung für das liefern, was sich gerade abspielte. Die roten Striemen an ihren Handgelenken massierend, blickte sie zu ihm auf. »Es war nicht leicht, die Seherin davon zu überzeugen, dass ihr die Auserwählten seid.«
    Hannah schüttelte verwirrt den Kopf. Sie kroch von ihm weg, dann stand sie auf. Die Auserwählten? Was in Gottes Namen spielte sich hier ab? War das wirklich Michael? Erst jetzt bemerkte sie, dass es noch weitere Gefangene gab. Eine Frau und zwei Männer. Die Frau kannte sie nicht, die Männer dafür umso besser. Ludwig Pechsteins Gesicht war von einer Wunde schrecklich entstellt. Seine Lederjacke wies mehrere tiefe Schnittwunden auf. Obwohl seine Augen geöffnet waren, schien er ohnmächtig zu sein. Hannah wandte sich dem anderen Gefangenen zu. Der alte Mann hatte seine Augen in die Ferne gerichtet. Ein Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel.
    »Stefan!« Sie eilte zu ihm hinüber. »Ich bin's, Hannah.« Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Die Reaktion war gleich null. »Stefan, sag doch etwas.«
    Er erkannte sie nicht, genauso wenig wie Pechstein. Beide Männer wirkten wie Hüllen, leer und ausgebrannt, als hätte man ihnen die Seele geraubt.
    Hannah ließ Bartels los. Auf einmal wusste sie, dass dies keine Einbildung war, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie blickte zu ihrem Entführer. Seine Art der Bewegung, die Stimme, seine Augen ... es war Michael - und irgendwie doch nicht. Ihr ehemaliger Freund war mittlerweile hinter Karl und Cynthia getreten und hatte auch ihnen die Fesseln abgenommen. »Kommt«, sagte er und deutete auf einen Seiteneingang. Karl und Cynthia rieben sich die Handgelenke. Hannah trat vor ihren Entführer. »Was ist mit den anderen, was ist mit John?« Der Schamane drehte sich kurz um und schüttelte den Kopf. »Sie werden noch heute Nacht brennen. Ein Opfer zur Ankunft des Königs.«
    Als ob sie seinen Worten Nachdruck verleihen wollten, näherten sich die zwei Wolfskreaturen aus dem rückwärtigen Teil der Höhle. Sie schienen zu spüren, dass es zu Spannungen kommen konnte.
    »Beeilt euch«, sagte der Schamane und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Sie stehen unter ihrer Kontrolle. Wenn ihr nicht tut, was ich euch sage, kann ich euch nicht mehr helfen.« Er reichte Cynthia seinen Stab und zog sie auf die Beine. Karl lehnte jede Hilfe ab und stemmte sich selbst hoch. Er

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