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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Hannahs Gesicht sah. »Ganz recht. Du bist die Hüterin der Scheibe. Das vierte und letzte Siegel wird von einer Frau überbracht werden - von einer Frau mit besonderen Fähigkeiten -, so wurde es geweissagt. Du bist die neue Seherin, Hannah, es steht so geschrieben. Und ihr«, und damit wandte er sich an Cynthia und Karl, »ihr seid seit unserer Brandmarkung meine Blutsgeschwister. Wir sind verbunden, nicht nur äußerlich.« Seine Stimme bekam einen beschwörenden Klang. »Wisst ihr denn nicht, welch hohe Ehre euch damit zuteilwird? Heute Nacht werden wir den rächenden Geist Gilgameschs auf die Erde zurückrufen. Wir werden Pasusu anrufen, den Dämon der Winde, auf dass er aufsteigen möge aus den Tiefen der Welt. Möge er die Jahre der Folter und Unterdrückung rächen und unsere Feinde vom Antlitz dieser Welt fegen.« Er hob die Arme in einer Geste der Beschwörung. »Heute Nacht werden wir die Pforten zur Unterwelt öffnen. Gilgamesch selbst wird erscheinen, unser Volk befreien und der Welt das Licht zurückgeben.« Seine Augen leuchteten. »Ich lade euch ein, an meiner Seite zu stehen, wenn es so weit ist. Cynthia und Karl, meine alten Weggefährten, und auch du, Hannah, meine neue Priesterin.« Er betrachtete sie eindringlich. »Es wird eine Nacht, wie es keine zweite je geben wird.« Stille kehrte ein.
    Cynthia und Karl schienen von der Wandlung, die ihr einstiger Freund offenbarte, tief erschüttert zu sein. Vielleicht war es auch nur die Vorsicht, die sie daran hinderte, voreilig zu reagieren.
    Hannah war dankbar dafür, dass sie ihn nicht provozierten. Er war in einer Verfassung, in der Wohlwollen leicht zu Hass werden konnte. Trotzdem gab es Fragen, die keinen Aufschub duldeten.
    »Warum du, Michael? Wie bist du in die Sache hineingeraten? Bitte hilf uns, zu verstehen. Wenn wir dir vertrauen sollen, muss es uns erlaubt sein, ein paar Fragen zu stellen.« Der Schamane lächelte überlegen. Offenbar hatte er die Frage erwartet. »Sagen wir, ich wurde erleuchtet. Es hat Jahre gedauert, bis ich die Wahrheit erkannte. Verwirrt, wie ich war, trug ich damals einen Berg an Wissen zusammen. Ich wollte verstehen, wollte begreifen, was mit uns während unserer Entführung geschehen war. Norman Stromberg war mir eine große Hilfe bei der Suche. Die Aussicht auf den Schatz ließ ihn jedoch unvorsichtig werden. Er versorgte mich mit Material, stellte mich seinen Fachleuten vor und öffnete seine Archive für mich. Sehr bald schon wusste ich mehr über die Bronzezeit und die Himmelsscheibe als er selbst. Mehr noch: Ich fand die Spur der Schamanen, fand heraus, wo ihre Versammlungsorte lagen und was sie dort taten.«
    Hannah hob ihr Kinn. »Und das war dann der Augenblick, in dem du entdeckt wurdest.«
    Michael zögerte. Ein Flattern war in seinen Augen zu sehen. »Du weißt davon?«
    »Bin ich nicht deine neue Seherin? Sollte ich solche Dinge nicht erkennen?«
    Einen Augenblick lang überschattete Misstrauen sein Gesicht, doch dann entspannten sich seine Züge. »Ja«, sagte er. »Ja, du hast recht.« Er zog die aus Hirschhorn geschnitzte Flasche heraus, setzte sie an die Lippen und trank einen Schluck. Ein Tropfen dunkelbrauner Flüssigkeit rann über seinen Mundwinkel. »Sie fanden mich«, sagte er. »Ich war unvorsichtig. Ohne Einladung darf sich niemand dem Kreis nähern. Sie entdeckten das Mal auf meinem Nacken. Sie nahmen mich mit und brachten mich in eine Höhle. Dort wurde ich mit dem Kopf nach unten ans Kreuz geschlagen.« Hannahs Blick fiel auf seine vernarbten Hände. »Was geschah weiter?«
    »Ich sollte sterben.« Er lächelte. »Aber ich starb nicht. Drei Tage und drei Nächte hing ich so, mit dem Kopf nach unten. Als die Seherin mich aufsuchte, war ich mehr tot als lebendig. Doch etwas an mir schien ihr zu gefallen. War es mein Aussehen, war es mein Wille, zu leben? Ich wusste es nicht. Sie ließ mich vom Kreuz nehmen und versorgte mich. Ich erinnere mich an dunkle Nächte voller Beschwörungen und Magie. Sie gab mir zu trinken und zu essen, und ich fühlte, wie meine Kräfte zurückkehrten. Nicht lange danach erhielt ich die Initiation. Ich wurde zum jüngsten Schamanen erwählt, den es in der Geschichte der Himmelsscheibe jemals gegeben hat.« Sein Gesicht glühte vor Stolz. »Es war wie ein Ritterschlag. Ich wurde zum Sohn des Gilgamesch. Ein Amt, das nicht nur Macht und Ansehen, sondern auch gewaltige Verpflichtungen mit sich brachte. Je tiefer ich in die Mysterien eindrang, desto faszinierter war

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