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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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ächzte vor Schmerz. Hannah war wie betäubt. Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf, angefangen von der Vorstellung, ihren ehemaligen Geliebten zu überwältigen, bis hin zu dem Plan, eine wilde Flucht zu inszenieren. Ein scharfes Knurren ermahnte sie, dass es besser war, den Anweisungen des Schamanen Folge zu leisten. Widerwillig setzte sie sich in Bewegung. Schritt für Schritt folgte sie den anderen, als sie unter der Führung ihres unheimlichen Begleiters in einem Seitengang verschwanden.
    Das Letzte, was sie sah, als sie sich noch einmal umdrehte, war der hilfesuchende Ausdruck in Johns Augen.
    In der einen Hand seinen Stab, in der anderen eine Fackel haltend, führte der Schamane die drei Gefangenen durch ein Labyrinth von Gängen. Es waren Scherklüfte im Granit, die sich während der Jahrmillionen vergrößert hatten und an manchen Stellen von menschlicher Hand verbreitert worden waren. Niemals hätte Hannah vermutet, dass der Brocken in seinem Innern so zerklüftet war. Das Gestein war feucht und glitschig, überall waren Pfützen. Unablässig tropfte es von der Decke, und ein kleines Rinnsal lief plätschernd vor ihren Füßen her. Der Geruch nach Pilzen war allgegenwärtig. Hannah sah sie überall in den Ecken und Winkeln dieser merkwürdigen Unterwelt wuchern. Riesige, farblose Schwämme, die von innen heraus zu leuchten schienen. Nach einer Weile veränderte sich das Bild. Die kugelförmigen Blässlinge wurden von plattenartig geschichteten Pilzen verdrängt, die ihr Myzel in Form von Fäden, Adern und Wurzeln über den Granit verteilten, als wollten sie sich in den Stein selbst bohren. Vermutlich war genau das der Fall. Der Bewuchs wurde dichter und dichter. Alles war voll von ihnen, die Luft geschwängert von ihren Sporen. Sie ließen sich auf ihren Haaren nieder, ihrer Kleidung, ihrer Haut. Hier unten war kein Wind mehr zu spüren. Die Luft stand, und es war schwül wie in einem Tropenhaus. Hannah wischte mit ihrer Hand übers Gesicht und betrachtete die schimmernde Substanz. Sie musste niesen. Der weiße Puder hatte einen seltsamen Effekt. Sie fühlte sich aufgeladen und nervös.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte der Schamane. »Diese Pilze haben eine bewusstseinsverändernde Wirkung. Es ist die Nahrung der Wächter.«
    »Wohin führst du uns?«, fragte Hannah.
    »Zum Herzen dieser Anlage, dem Ort, nach dem ihr die ganze Zeit gesucht habt. Dem alten Grabmal. Es liegt unten, in den tieferen Bereichen des Tempels.«
    Hannah öffnete den Mund zu einer weiteren Frage, schwieg dann aber. Sie musste sich immer wieder einreden, dass dies nicht Michael war. Jedenfalls nicht der Michael, den sie zu kennen geglaubt hatte. Der Mann vor ihr war ein völlig anderer. Nicht nur kriminell, sondern offenbar völlig wahnsinnig. Ein religiöser Fanatiker. Sie musste jetzt sehr vorsichtig sein. Ein paar Meter nur noch, und sie waren am Ziel. Der Schamane schob seinen Arm in eine Öffnung in der Wand und zog einen Hebel. Ein tiefes Rumpeln ertönte, dann schob sich vor ihnen eine Felswand zur Seite.
     
     
60
     
    Ein Luftzug wehte ihr entgegen und führte frischen Sauerstoff mit sich. Sie holte ein paarmal tief Luft, dann verschwand das merkwürdige Gefühl in ihrem Kopf. Der Schamane betrat den Saal und entzündete zwei Fackeln rechts und links der Tür. Der Raum, den sie beleuchteten, mochte etwa zehn auf zehn Meter groß sein. Seine Deckenhöhe ließ sich nur schwer ermessen. Vielleicht sechs Meter, vielleicht mehr.
    Vor ihr stand ein gewaltiger Schrein aus Alabaster. Er war von oben bis unten bedeckt mit Schmuck, Tellern und Kelchen. Rechts und links davon standen weitere Schreine, neun insgesamt, alle mit denselben filigranen Reliefs verziert und auch sie bedeckt mit Schätzen. Die gesamte Kammer war mit gelben, blauen und türkisfarbig glasierten Ziegeln ausgeschmückt, über denen kunstvolle Wandteppiche hingen. An manchen Stellen waren die Ziegel mit prächtigen Malereien verziert. Stiere, Streitwagen und Fabelwesen, halb Mensch und halb Löwe. Linker Hand war eine Szene zu bewundern, in der ein Wagen von galoppierenden Pferden gezogen wurde. Der Fahrer hielt die Zügel und trieb die Pferde an, während ein zweiter Mann hinter ihm stand, vollständig in eine Rüstung aus Metallschuppen gekleidet und einen gespannten Bogen haltend. Sein Schwert steckte in der Scheide, deren Enden mit den Figuren von zwei Löwen verziert war. Von Pfeilen getroffene Krieger sanken vor dem Gespann in den Staub. Das Relief auf

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