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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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der anderen Seite war nicht minder prächtig. Dargestellt waren die Astralgötter der vier Weltecken: Nergal als Flügellöwe, Marduk als geflügelter Stier, Nebo als Mensch und Nintura als Adler. Direkt vor ihr war das größte Relief zu sehen. Derselbe Mann, der auch auf dem Streitwagen abgebildet war, diesmal jedoch in ein reich besticktes, traditionelles Gewand gekleidet. Er trug einen konischen Hut, und sein Bart war zu kunstvollen Zöpfen geflochten. In seinen Händen hielt er vier Scheiben, bronzene Scheiben, über und über mit Sternen verziert. Überall schimmerte blankes Gold, in dem sich das war-me Licht der Flammen spiegelte.
    Hannah hatte sich immer gefragt, was wohl tatsächlich hinter dem ominösen Schatz steckte, von dem sie immerzu gehört hatte. Niemals hatte sie damit gerechnet, dass er tatsächlich existierte, geschweige denn, dass er so groß war. Langsam begann sie zu verstehen. Das war keine gewöhnliche Grabkammer. Dies war etwas weitaus Bedeutenderes. »Ganz recht«, sagte Michael, der sie aus den Augenwinkeln heraus beobachtet hatte. »Es ist ein Königsgrab. Aber nicht das Grab irgendeines Königs. Hier liegt der Sohn der Göttin Ninsun und des Halbgottes Lugalbanda.« Hannah glaubte sich verhört zu haben. »Was sagst du da? Du behauptest, dies sei das Grab des Gilgamesch?« »So ist es.« Michaels Zähne schimmerten weiß in seinem schwarzen Gesicht. »Bezwinger des Chumbaba, Herrscher von Uruk und Erbauer der großen Mauer.« Er drehte sich zu Cynthia und Karl. »Versteht ihr? Der Brocken ist in Wahrheit eine Art Zikkurat, ein Himmelshügel, Gilgameschs ureigenster Götterberg. Und dies ist sein letzter Ruheort.« Er wandte sich den Sarkophagen zu, legte seine Finger kurz auf Lippen und Stirn und verneigte er sich vor dem größten der neun Schreine.
    Niemand sagte ein Wort.
    Michael, den das Schweigen mit Genugtuung zu erfüllen schien, deutete der Reihe nach auf die Sarkophage. »Dies sind die Ruhestätten seiner engsten Vertrauten. Seiner Frau Ishtar, seines Leibarztes und seines Hofmathematikers, seines obersten Baumeisters, seines Astronomen, seines Meisterschmieds, seines Magiers und zuletzt seines obersten Leibdieners. Es war Tradition, dass sie am Tag seines Todes freiwillig aus dem Leben schieden.«
    »Aber Gilgamesch ist nur ein Mythos«, sagte Hannah leise. »Ein Heldenmärchen, ähnlich der Legende von König Artus. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er tatsächlich gelebt hat.«
    »Da täuschst du dich«, erwiderte Michael. »Die Geschichte ist zwar mit den Jahrtausenden zu einem Epos angewachsen, sie besitzt aber einen wahren Kern. Die Reise des Königs auf der Suche nach seinem Urahnen Utnapischtim und der Quelle des Lebens.« Er erhob seine Stimme, und es klang, als würde er einen alten Text rezitieren. »Die Reise führte den König bis hoch in den Norden, weit weg von den Steppen seiner Heimat. Was er fand, war ein Land, das fruchtbar und blühend war, wie der Garten Eden. So schön war das Land, dass er sich dort ansiedelte und einen Staat gründete. Die Einheimischen waren wild und unzivilisiert, doch sie verehrten die Neuankömmlinge wie Götter. Zehn Jahre lebte Gilgamesch in diesem Land, und er ließ einen mächtigen Tempel erbauen. Doch als es Zeit war, heimzukehren, spürte der große König, dass ihn die Kälte und Feuchtigkeit dieses Landes geschwächt hatten. Alt war er geworden, alt und krank. Er spürte sein Ende nahen. Sein letzter Wille war es, hier bestattet zu werden, in seinem Tempel auf der Spitze des Berges, auf dass er geschützt wäre vor der zweiten Sintflut. Er kehrte niemals mehr in seine Heimat zu-rück.« Michael verstummte, tief in Gedanken versunken.
    Hannah beobachtete ihn unter gesenkten Wimpern. Die Art, wie er sprach und wie er sich bewegte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Ganz ohne Zweifel glaubte er, was er sagte. Schlimmer noch: Sein ganzes Auftreten deutete darauf hin, dass er sich selbst für einen Nachfahren des Gilgamesch hielt - für jemanden, dessen Aufgabe es war, die Traditionen und Rituale seines Vorfahren fortzuführen. Sie musste jetzt ganz vorsichtig sein, wollte sie jemals wieder das Tageslicht erblicken.
    »Was willst du von uns?«, fragte Hannah mit sanfter Stimme, weiter den Blick gesenkt haltend.
    »Was ich will?« Sein trockenes Lachen hallte von den Wänden. »Ich will, dass ihr euch mir anschließt. Ich will, dass ihr mir helft, den König zurück ins Leben zu rufen.« Er nickte, als er den Unglauben in

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