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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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weiße Kleider gehüllt, und auf ihren Köpfen ruhten Stirnreifen aus Laub. Jede von ihnen trug etwas in der Hand. John hielt den Atem an. Die Himmelsscheiben.
    Der Schamane nahm die erste und brachte sie in einer der seitlichen Vertiefungen am Opferstein an. Dann nahm er die zweite und legte auch sie in eine Vertiefung. John nickte grimmig. Die Ketten auf der Oberseite sowie die Ornamente und Symbole entlang des Steins - es war ein Wagen. Genau, wie sie vermutet hatten. Ein vierrädriger Streitwagen, dessen feurige Pferde das Gefährt über das Firmament zogen. Als alle vier Scheiben in ihren Halterungen saßen und die Mädchen wieder verschwunden waren, klatschte der Schamane erneut in die Hände. Diesmal erschien ein Knabe, gehüllt in eine goldene Rüstung. Seine Füße steckten in Sandalen, die Arme und Beine waren mit verzierten Schienen geschützt. Er sah aus wie der junge Achill. In seinen Händen hielt er einen mit Juwelen besetzten Dolch. John reckte den Hals und versuchte, einen Blick darauf zu erhaschen. Diese Waffe war außergewöhnlich. Wie es schien, war die gekrümmte Schneide selbst aus Bronze, der Parierstab und der Griff aber aus purem Gold. Die grünliche Oxidationsschicht der Klinge deutete auf ihr hohes Alter hin. Möglicherweise waren die Scheiben und der Dolch gleich alt, möglicherweise sogar aus der Hand des gleichen Meisters. Er erinnerte sich, diesen Dolch auch auf der Abbildung des Duncansby Head, dem Kopfstein von Duncansby, gesehen zu haben. Die Waffe schien in einer besonderen Beziehung zu den Himmelsscheiben zu stehen. Der Schamane nahm die Klinge mit einer ehrfürchtigen Verbeugung in Empfang und hob sie in die Luft. Die Menge folgte schweigend jeder seiner Bewegungen. Als er so dastand, den Dolch in die Luft gereckt, geschah etwas Seltsames. Ein hohes Sirren erklang, als würde die Luft von Myriaden winziger Flügel in Schwingung versetzt. Das Sirren war so grell, dass es ihm in den Ohren schmerzte. John sah sich um. Was in Gottes Namen war das? Es klang, als würde sich jemand mit einem Steinschneider durch Marmor arbeiten.
    Plötzlich glaubte er eine Veränderung am Opferstein wahrzunehmen. Eine partielle Unscharfe, die aussah, als würde der Stein vibrieren. Er musste mehrmals genau hinsehen, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte. Kein Zweifel: Der Felsblock wurde durchscheinend, an manchen Stellen sogar transparent. Das Geräusch hatte eindeutig damit zu tun. Etwas ging mit diesem Stein vor sich. Etwas, das in höchstem Maße ungewöhnlich war.
    Er war so abgelenkt, dass er beinahe übersehen hätte, wie der Schamane auf die gegenüberliegende Seite der Höhle gegangen war und einen der Gefangenen losschnitt. Es war die Frau. Ihre Haare hingen in Strähnen vom Kopf. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, war sie mehr tot als lebendig, eine willenlose Puppe. John hatte weder sie noch die beiden Männer je zuvor gesehen. Er fragte sich, welches Schicksal sie wohl auserkoren hatte, seine Mitopfer zu sein. Vermutlich würde ihm keine Zeit mehr bleiben, darauf eine Antwort zu erhalten. Eigentlich hatte er damit gerechnet, als Erster auf den Block geschnallt zu werden, immerhin war er Michaels Nebenbuhler. Doch wie es schien, hatte der Schamane andere Pläne. Welche, das war John schleierhaft. Leichter zu deuten war hingegen der Ablauf, mit dem diese Zeremonie vonstattengehen würde. Vier Himmelsrichtungen - vier Scheiben - vier Opfer. Welch simple Symbolik!
    Die Frau war inzwischen mit Hilfe einiger starker Hände auf den Opferstein getragen worden. Ihre schlaffen Gliedmaßen wurden mit Ketten befestigt. Als ob das noch nötig gewesen wäre. Die Frau bekam nichts mehr von dem mit, was um sie herum geschah. Die Augen geöffnet, ihren Blick starr zur Decke gerichtet, wirkte sie, als ob ihre Seele bereits in weite Ferne entschwunden war. Vielleicht war das auch gut so. Was nun folgte, würde alles andere als angenehm werden. Die Hohepriesterin, die nach ihrem schweißtreibenden Tanz kurz aus dem Blickfeld verschwunden war, tauchte wieder auf. Ihr Körper war ganz und gar in schwarze Rabenfedern gehüllt. Sie sah aus wie ein riesiger Vogel, der geradewegs aus der Unterwelt emporgestiegen war. Mit einer Haltung, die ihr wahres Alter nicht länger verbergen konnte, trat sie vor die Menge und hob die Arme. Die Flügel rauschten, dann erstarb jedes weitere Geräusch.
    »Lemuutti urusu itene eppuus umisamma.« Ihre Stimme hallte durch die Höhle wie ein böser Wind. »Messu Ina abasaani

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