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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Körpergwicht in den Leib. Bis zum Heft fuhr die Klinge in die Brust. Das Wesen stieß ein letztes Röcheln aus, dann erstarrte es.
     
     
64
     
    Cynthia hörte den Schrei in der Dunkelheit. Abrupt blieb sie stehen. »Hast du das gehört?«
    Hannah schüttelte den Kopf. »Keine Zeit jetzt. Weiter.« »Nein.«
    »Was soll das heißen?« »Ich kann nicht.« »Kannst was nicht?«
    »Ihn zurücklassen. Ich muss ihm helfen.« »Nein«, antwortete Hannah. »Er wollte es so. Wenn du jetzt zurückrennst, war alles umsonst. Dann opfern wir alles, wofür er sein Leben riskiert hat.«
    Cynthia schüttelte den Kopf, drehte sich um und lief den Gang zurück.
    Hannah versuchte, sie zu packen, aber sie war schon weg. »Bleib stehen!«
    Cynthia reagierte nicht auf die Rufe der Archäologin. Wie von selbst trugen ihre Beine sie zu dem Ort, an dem sie Karl verlassen hatte. Die Wunderdroge verfehlte auch bei ihr nicht ihre Wirkung. Leichtfüßig wie eine Gazelle sprang sie über Erdspalten und Steinbrocken. Sie hätte Karl niemals verlassen dürfen. Sie würde sich nie verzeihen können, wenn ihm etwas zustieß. Der Gedanke an ihn erfüllte sie mit Wärme und Hoffnung. Im Geiste sah sie sein offenes Gesicht, fühlte seine starken Arme und hörte sein herzliches Lachen. Sie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen zu füllen begannen. Trotzig wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht und rannte weiter. Kaum eine Minute später erreichte sie die Gabelung. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten.
    Karl saß gegen die Wand gelehnt, die Augen geöffnet. Über seinen Beinen lag die Kreatur, das Schwert bis zum Heft in der Brust steckend. Cynthia eilte zu ihrem Freund und untersuchte ihn. Er hatte schreckliche Verletzungen davongetragen. Aus den Wunden sickerte Blut. Seine Finger fühlten sich ganz warm an, und als sie sie berührte, glaubte sie ein Zucken zu spüren. Von einem Hoffnungsschimmer erfüllt, hockte sie sich neben ihn und streichelte ihm das Gesicht. Eine einzelne Träne rollte ihm über die Wange. Der Mund war zu einem schmalen Lächeln verzogen. »Karl.«
    Sein Kopf fiel zur Seite.
    Hannah sah Cynthia und Karl zusammengekauert am Boden sitzen. Ihr schwante Unheil. Der Wächter war tot. Er hatte den letzten Rest seiner grauenvollen Existenz zusammen mit seinem nach Pestilenz stinkenden Atem ausgehaucht. Aber wie es schien, hatten die beiden einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Betroffen hockte sie sich neben die beiden. Sie legte ihre Hand auf Cynthias Unterarm, doch die dunkelhaarige Frau zog ihn weg. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie gab keinen Laut von sich, kein Weinen, kein Wimmern, kein Schluchzen. Sie saß nur da und blickte mit glasigen Augen ins Leere. Hannah konnte nicht ermessen, welche Gedanken ihr gerade durch den Kopf gehen mochten, welche Qualen sie durchlitt. Die Hoffnung auf ein normales Leben und auf eine Liebe an der Seite ihres langjährigen Freundes. Alles, was gut und schön gewesen war in ihrem Leben, lag nun tot vor ihren Füßen. Wenn auch nur ein Funken Hoffnung auf künftiges Glück in ihr gekeimt hatte, so war er vermutlich jetzt erloschen. In diesem Moment kam ihr John in den Sinn. Ob er wohl noch am Leben war? Und wenn ja, wie musste er sich jetzt fühlen, so allein und hilflos?
    Cynthia hob ihren Kopf. Ihre Augen waren auf Hannah gerichtet, hielten sie gefangen. »Ich werde zurückgehen«, sagte sie. »Ich werde dem Treiben ein Ende machen.« Mit einer hasserfüllten Bewegung zog sie dem Wächter das Schwert aus der Brust. Die bluttriefende Klinge schimmerte in der Dunkelheit. Hannah deutete ein Nicken an.
    »Ja«, sagte sie. »Du hast recht. Wir sind lange genug weggelaufen. Lass uns ein zweites Schwert holen und dann los. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht zu spät kommen.« »Wie viele von den Pilzen hast du noch?« »Genug, um uns zu Tieren werden zu lassen.« Auf Cynthias Gesicht stahl sich ein grausames Lächeln. »Her damit!«
     
     
65
     
    In der Höhle hatten sich schätzungsweise dreißig Gestalten versammelt. Frauen, Männer, bunt gemischt. Alle waren sie kostbar gekleidet, mit langen bestickten Gewändern aus schweren Stoffen. An ihren Füßen trugen sie seltsame, gebogene Schuhe aus Holz, an denen Glöckchen befestigt waren, die beim Gehen leise klingelten.
    John blickte mit Verwunderung auf die seltsamen Gestalten. Ihre Gesichter, in denen sich Erwartung und Ehrfurcht spiegelten, waren bei weitem nicht so

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