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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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exotisch wie ihre Kleidung. Es waren Menschen, wie man sie im Alltag zu Dutzenden traf. Angestellte, Handwerker, Hausfrauen. Menschen, die, genau wie Michael, ein Doppelleben führten. Ihre Gesichter waren ernst und würdevoll. Niemand lachte, niemand sprach ein Wort. Ale hatten sich um den Opferstein gruppiert, als ob dieser das heilige Zentrum ihres Glaubens war. Dass es sich um eine spezielle Form von Ritual handeln musste, stand außer Frage. Spätestens als die neue Person eintraf, konnte diesbezüglich keine Unklarheit mehr bestehen. Es war eine Frau, aber eine, wie John sie noch nie zuvor gesehen hatte.
    Im Gegensatz zum Rest der Anwesenden war sie bis auf einen prächtigen Hüftgurt nackt. Sie mochte so um die sechzig Jahre alt sein, und ihre Haut glänzte im Schein der Fackeln. Vielleicht war sie in früheren Jahren einmal schön gewesen, doch jetzt sah sie zum Fürchten aus. Ihre Augen leuchteten aus einem dicken Streifen schwarzer Farbe hervor, der sich, einer Maske gleich, von der Nase ausgehend bis zu den Ohren zog. Die Lippen waren ebenfalls schwarz bemalt und ließen ihre Zähne außergewöhnlich lang erscheinen. Auf ihrem Kopf trug sie eine Tiara, die mit Efeu und Beeren verziert war. Die Symbole der Fruchtbarkeit standen in merkwürdigem Kontrast zu der totengleichen Gesichtsbemalung. Sie schien Fruchtbar-keits- und Totengöttin in einem zu sein, eine Kombination, die sich eigentlich ausschloss. In der Person dieser nackten Frau aber schien sich beides auf eine beunruhigende Weise zu ergänzen. An ihrer Seite kauerte der zweite Wächter. Musik setzte ein. Eine Mischung aus Hörnern und Schlaginstrumenten. Erst langsam, dann immer schneller werdend, schwollen die Töne an. Die Menge wich ehrfürchtig zur Seite, als die Hexe begann, ihre Arme zum Rhythmus zu bewegen. Dann nahmen auch ihre Füße den Takt auf, erst wippend, dann stampfend. John musste mit Verwunderung feststellen, dass die Frau für ihr Alter bemerkenswert beweglich war. Immer geschmeidiger wurden ihre Bewegungen, als sie sich vorwärtsbewegte und schlangengleich um den Opferstein zu tanzen begann. Die Art, wie sie sich bewegte, hatte etwas Hypnotisches. John beobachtete, wie der Tanz im Einklang mit der Musik immer ekstatischer wurde. Das Licht der Flammen ließ ihren schweißnassen Körper wie flüssiges Gold erscheinen. Ihr Tanz führte sie bis auf eine Armlänge an ihn heran. Schweißtropfen flogen durch die Luft und landeten auf seinem Gesicht. Ihre Füße hüpften und tanzten jetzt mit einer unglaublichen Gewandtheit über den steinigen Untergrund. Die kleinen Glöckchen, die an ihren Gelenken befestigt waren, gaben ein leises Klingeln von sich. Schleier feinen Staubes wirbelten empor und trübten die Luft, während die Farbe des Lichts sich immer mehr in ein blutiges Rot verwandelte. Der Tanz erreichte seinen Höhepunkt. In eindeutiger Pose schmiegte die Frau ihren Körper an den schwarzen Felsen, als ob sie sich mit ihm vereinigen wollte. Alles an ihr war Verführung. Sie keuchte. Sie stöhnte. Sie strahlte eine Energie aus, der John sich selbst in dieser unheimlichen Atmosphäre nicht entziehen konnte. Mit einem orgiastischen Schrei endete der Tanz.
    Schwer atmend stand die Frau da, die Hände in die Hüften gestützt und nach Luft ringend. In den Augen der Versammelten leuchtete Verehrung auf. Viele nickten ihr ehrfürchtig zu. Nicht wenige von ihnen schienen durch den Tanz selbst in einen Zustand der Erregung versetzt worden zu sein. In diesem Augenblick kehrte der Schamane zurück. Seine Gestalt schien das Licht der Flammen zu schlucken. Obwohl seine Augen im Dunklen lagen, glaubte John einen ärgerlichen, um nicht zu sagen wutentbrannten Ausdruck in ihnen zu bemerken. Irgendetwas war schiefgegangen, das spürte er. Weder Hannah noch Karl und Cynthia waren zu sehen. Auch von dem zweiten Wächter fehlte jede Spur. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
    Mit aller Kraft zog und zerrte John an seinen Schlaufen. Das Leder ächzte und knarrte, gab jedoch keinen Millimeter nach. Verdammte Fesseln. Mit zusammengepressten Lippen musste er sich eingestehen, dass er so nicht weiterkam. Er hob seinen Kopf und erstarrte. Michaels dunkle Augen blickten genau in seine Richtung. Ein kalter, erbarmungsloser Glanz lag in ihnen. Sofort verwarf er jeden weiteren Versuch, sich zu befreien. Der Schamane nickte, drehte sich um und klatschte in die Hände. Die Menge wich auseinander, und zu sehen waren vier junge Mädchen. Sie waren in

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