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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Ortschaften wie Schierke jedes Jahr veranstaltet wurde, war reinste Blasphemie. Ein Frevel an dem einstmals so schönen und reinen Fest. Eine Sünde, die mit Worten kaum zu beschreiben war. Er würde dem Fruchtbarkeitsfest wieder zu seiner einstigen Blüte verhelfen, es wieder zu dem machen, das es einst war. Einem Festtag, frei von Sorgen, Ängsten und Unterdrückung. Das Schandmal des Völkermordes und der Hexenverbrennung würde ein für alle Mal getilgt werden. Feuer gegen Feuer, so lautete sein Richtspruch. Reinigung durch Flammen. Schierke würde brennen und seine Ruinen aller Welt als mahnendes Zeichen dienen. Der Dämon war bereits bis an die Randbezirke vorgerückt und versetzte dort alles in Angst und Schrecken. Wie gern hätte er der Stadt jetzt den Todesstoß versetzt, doch zu seinem Missfallen musste er den Angriff unterbrechen. Das Eintreffen von Hannah und Cynthia nötigte ihn, seine Pläne zu ändern. Beide schienen es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihn ausschalten zu wollen. Es war höchste Zeit, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Er rief den Dämon zurück.
    »Su seribi ana qeerbi mahazisuun umisaam mahar.« Die Stimme erklang mit umwerfender Gewalt. John hätte niemals geahnt, dass einfache Worte eine solche Macht ausstrahlen konnten.
    »En ü na sa araku uia litamuü!«
    Ein Donnern fuhr durch die Höhle. Ein Grollen, das aus den Tiefen der Welt zu stammen schien. Er warf einen Blick auf den Schamanen und sah, wie dieser den Dolch mit beiden Händen fest umklammert hielt, die Augen unentwegt auf den rubinfarbenen Knauf gerichtet. Er schien in eine Art Trance gefallen zu sein und entfernte sich Schritt für Schritt von dem Opferstein. John ahnte, was das bedeutete. Mit einem Riesensatz brachte er sich in Sicherheit. Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment entsprang dem Altar eine Säule aus rauchendem Licht. Flammende Schwingen entfalteten sich, und Arme aus brennendem Plasma zerteilten die Luft. John verschlug es die Sprache.
    Eine Woge unerträglicher Hitze flirrte durch die Höhle. Er spürte, wie die Härchen auf seiner Hautoberfläche sich aufrichteten und dann zu Asche verdampften. Der Opferstein begann rot zu leuchten. Mit angsterfüllten Schreien flohen die Menschen aus der Höhle. Der Leichnam der Frau auf dem Altar bäumte sich auf und fing dann Feuer. Ihre Kleidung verdampfte, danach die Haare, die Haut, das Fleisch und die Knochen. Ein ekelhaftes Zischen erklang, als der Leib zerfiel. Es war, als würde man in einen rot leuchtenden Röntgenschirm blicken. Nach wenigen Sekunden war nichts mehr übrig. Doch wenn John geglaubt hatte, dass dies schon alles war, sah er sich getäuscht. Aus blauen Augen blickte das geflügelte Wesen auf den Schamanen, während es auf weitere Befehle seines Meisters wartete. Der Boden unter seinen Füßen begann zu brennen. »Hannah!«
    Michael zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Archäologin. »Komm zu mir.«
    Als ob die Vereinigung mit dem Dämon ihm übermenschliche Kräfte verleihen würde, veränderte sich seine Stimme. Sie klang nun wesentlich tiefer und durchdringender. »Ich will, dass du zu mir kommst.«
    Die Stimme war von solcher Kraft, dass Hannah tatsächlich ihren schützenden Platz nahe des Tunnels verließ und sich auf den Weg in seine Richtung machte.
    »Hannah, tu das bitte nicht«, zischte John ihr zu, als sie an ihm vorüberging. Doch die Archäologin wirkte, als wäre sie in Trance. Willenlos wie ein verschüchtertes Kind ging sie auf den Dämon und seinen Meister zu. Michael lächelte. Den Kopf erhoben und das Kinn vorgereckt, wartete er, bis sie nahe genug gekommen war, und hob dann die Hand. »Halt!«
    Er betrachtete sie herausfordernd. »Obwohl du es gewagt hast, dich gegen mich zu erheben, bin ich bereit, dir zu verzeihen. Unter einer Bedingung.«
    »Was wünschst du?« Mit unergründlichem Gesichtsausdruck stand sie vor ihm. John spürte, dass sie sich verschlossen hatte. Er kannte diesen Ausdruck, er wusste um die Kräfte, die sie beherrschte. Hannah war kein normaler Mensch. Sie verfügte über eine Gabe, die ihm selbst fremd war. Eine Art geistiger Disziplin, die es ihr ermöglichte, sich in sich selbst zurückzuziehen und ihre Gedanken zu fokussieren. Eine Technik, die weit über das hinausging, was einfache Menschen zu leisten imstande waren. Hätte man diese Gedankenkraft einfangen können, man hätte damit ein Loch in eine Metallplatte brennen können. Der Schamane, der nichts von dieser Eigenschaft wissen

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