Nebra
Textes, der mehr oder weniger in demselben Stil geschrieben war. Sie war geradezu erleichtert, als er am Ende der Mail doch noch auf die Himmelsscheibe zu sprechen kam.
»Ich habe noch eine Weile über das scheinbar zufällige Sternenmuster nachgedacht und bin auf eine Idee gekommen«, schrieb er. »Bitte schick mir doch eine hochauflösende Bilddatei von der Scheibe, damit ich meine Theorie überprüfen kann. Alles Liebe, John.«
Seufzend klickte Hannah auf die Antworttaste und fügte ein Bild aus ihrer Datenbank hinzu. Mit einem kurzen Kommentar schickte sie die Mail an den Absender zurück. Sollte er wirklich auf etwas gestoßen sein? Unwahrscheinlich. Vermutlich suchte er nur nach einem Vorwand, um sie wieder kontaktieren zu können. Andererseits ... John war immer für eine Überraschung gut.
Die restlichen Mails waren eher uninteressant. Sie schloss das Programm und wendete sich dem beeindruckend hohen Poststapel zu. Briefe aus aller Welt, Ausstellungsanfragen, Anfragen über Abdruckrechte, spezielle Informationen über die Himmelsscheibe, sogar die Anfrage eines Romanautors bezüglich Recherchearbeiten befanden sich darunter. Es schien, als gäbe es in der Welt der Archäologie kein anderes Thema mehr als diese Scheibe. Was war mit all den anderen interessanten Funden, die es in diesem Museum zu bewundern galt? Dem Menhir von Langeneichstädt, dem Reiterstein von Hornhausen, dem Grab von Unseburg und den Münzen aus Dorndorf. War das etwa nichts? Und warum landeten die ganzen Anfragen immer auf ihrem Tisch? Sie bündelte die Post, sortierte sie und teilte sie in kleine Stapel, die sie geordnet nach Themen in den nächsten Tagen abarbeiten würde. Dabei fiel ihr ein Brief in die Hände, auf dem kein Absender vermerkt war. Fast war sie geneigt, ihn auf den Abfallstapel zu legen, als ihr Auge über das Adressfeld glitt. Die Anschrift mit ihrem Namen war minutiös mit Füllfederhalter geschrieben worden. Keine weibliche Schrift, dafür war sie zu kantig. Die Buchstaben lehnten ausgewogen nebeneinander, Ober- und Unterkante exakt einhaltend. Eine Schrift mit Charakter und Ausdrucksstärke.
Neugierig öffnete Hannah den gefütterten Umschlag und entnahm ihm ein einzelnes Blatt Büttenpapier mit Prägedruck. Wieder kein Absender. Nur ein einziger Satz, geschrieben in derselben markanten Handschrift.
»Sehr geehrte Frau Dr. Peters, haben Sie sich einmal die Frage gestellt, ob es vielleicht mehr als nur eine Scheibe gegeben hat? Hochachtungsvoll, ein Freund.«
Hannah runzelte die Stirn. Ein Freund? Warum stand da kein Name drunter? Sie drehte das Blatt um und schaute noch einmal in den Umschlag, doch da war nichts. Nur dieser eine Satz.
Die Scheibe, damit konnte nur die Himmelsscheibe gemeint sein. 1999, das war das Jahr gewesen, in dem zwei Raubgräber nur etwa achtzig Kilometer entfernt, auf dem Mittelberg nahe der Ortschaft Wangen bei Nebra, auf etwas gestoßen waren. Ein Depot, in dem sich neben der Scheibe zwei Schwerter, ein Beil, Meißel und Armspiralen befunden hatten. Kein menschliches Grab, wohlgemerkt, sondern ein Ort, an dem besagte Gegenstände versteckt worden waren. Die Scheibe hielten die Raubgräber ursprünglich für einen Eimerdeckel und beschädigten sie durch ihre unsachgemäße Bergungsaktion schwer. Erst später wurden sie sich des Wertes bewusst. Drei Jahre lang versuchten die Hintermänner, das wertvolle Kunstobjekt auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Der Preis stieg dabei auf immer höhere Summen. Erst durch den beherzten Einsatz eines Archäologen konnte die Scheibe bei einer fingierten Übergabeaktion mit Hilfe der Schweizer Polizei sichergestellt werden.
Nach heutigem Kenntnisstand musste man davon ausgehen, dass die Himmelsscheibe als tragbares Observatorium zur genauen Bestimmung der Sonnenwenden verwendet wurde. Mangelnde Zweitfunde ließen aber den Verdacht entstehen, dass es sich um ein Einzelstück handelte. Man vermutete, dass die Scheibe genau dort zum Einsatz gekommen war, wo man sie auch gefunden hatte, am Mittelberg. Spekulierte der Schreiber dieser Zeilen etwa mit dem Gedanken, dass es an anderen Orten noch andere Scheiben gab? Versteckt, in Depots, so wie diese hier? Aber wo? Und warum gab er sich nicht zu erkennen? Fragen über Fragen. Hannah entschied, dass es sich um einen Scherz handeln musste. Vielleicht sogar von ihrem Chef selbst, um ihr auf die Sprünge zu helfen. Obwohl das eigentlich gar nicht zu seinem Charakter passte. Dr. Feldmann war ein gebranntes Kind.
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