Nebra
Knochenskulpturen mit sich rissen. Eine Wolke aus Staub und Dreck raubte ihm die Sicht.
Es dauerte einige Augenblicke, dann war der Spuk vorbei. Die Staubschleier sanken zu Boden, die Erde beruhigte sich. Selbst die Temperatur kletterte wieder auf ein erträgliches Maß. Stille breitete sich aus.
Der Mann und die Frau sahen sich an und nickten einvernehmlich. Es war gelungen. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hatten sie eine Antwort erhalten. »Ein Zeichen«, murmelte die Seherin. »Genau wie es in den alten Schriften steht. Er hat uns geantwortet.« »Was hat er gesagt?«
»Jemand wird kommen. Jemand, der uns das letzte Siegel bringen wird.« Sie schloss die Augen, drückte ihre Fingerspitzen an die Schläfen und sagte: »Eine Frau. Sie wird uns das letzte Siegel überreichen.«
Der Schamane spürte eine neue Kraft in sich. Eine Kraft, an die er schon fast nicht mehr geglaubt hatte. »Er hat geantwortet«, wiederholte er. »Die Runen haben nicht gelogen. Es ist alles wahr. Nicht mehr lange, dann erscheint sein Zeichen über dem Berg.«
Er stand auf und reichte der Seherin seine Hand. »Komm«, sagte er, immer noch ganz überwältigt von dem un-erhofften Erfolg. »Wir müssen die Frau willkommen heißen. Uns bleiben nur noch vierzehn Monde, um das Ritual vorzubereiten. Es wird Zeit.«
6
Montag, 21. April
Deutschland präsentierte sich an diesem Morgen von seiner hässlichsten Seite. Strömender Regen, mürrische Gesichter und eisige Temperaturen empfingen Hannah, kaum dass sie den Bahnhof von Halle verlassen hatte und auf die gegenüberliegende Straßenseite geeilt war. Ihr kleiner, hoffnungslos mit Büchern und Arbeitsunterlagen überfrachteter Polo, den sie vor einer Woche dort abgestellt hatte, war, verglichen mit der Stimmung, die draußen herrschte, geradezu ein Hort des Friedens und der Behaglichkeit. Sie konnte es kaum erwarten, einzusteigen und endlich die Tür hinter sich zu schließen. Endlich war sie in ihrer eigenen kleinen Oase des Wohlbefindens, während der Regen auf die Scheiben klatschte. Sie lehnte sich nach rechts und öffnete das Handschuhfach. Eine Flut von Parkscheinen, Stiften und Taschentüchern kam ihr entgegen. Nach einer Weile fand sie, wonach sie gesucht hatte: ein angebrochenes Päckchen mit Schokoriegeln. Sie nahm sie heraus, schloss das Handschuhfach und riss die Verpackung auf. Der erste Bissen schmeckte wunderbar. Mit geschlossenen Augen wartete sie eine Weile, bis die Schokolade ihre Wirkung zu entfalten begann. Lautstarkes Gezanke weckte sie aus ihrem Tagtraum. Vor ihr stritten sich zwei Autofahrer um einen Parkplatz. Hannah startete den Motor, schaltete den Scheibenwischer an und fuhr los.
Die Büros des Landesmuseums für Vorgeschichte lagen im Innenstadtbereich, etwa zwei Kilometer vom eigentlichen Hauptgebäude entfernt. Gemessen an Afrika oder den USA, waren die Entfernungen hier in Deutschland geradezu lachhaft. Alles wirkte so klein, so gedrängt, fast wie in einem Land, das von lauter Wichteln bevölkert wurde. Hannah hatte einige Zeit gebraucht, um sich an die Enge zu gewöhnen. Immer wieder gab es Momente, in denen sie von der Endlosigkeit der afrikanischen Wüste träumte, von den Felsen, den Oasen und der Weite des Himmels.
Sie schaltete den Blinker ein und bog in Richtung Marktplatz ab. Ihr war klar, dass John sich nicht abhalten lassen würde, weiter um sie zu kämpfen. Er war einer der stursten Menschen, denen sie je begegnet war. Er würde auch diesmal keine Ruhe geben. Das spürte sie, als sie ins Parkhaus fuhr und ihren Wagen in einer der für Mitarbeiter reservierten Haltebuchten abstellte. Sie spürte es, als sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen in den ersten Stock hinaufstürmte und die Tür mittels Magnetkarte öffnete, und sie spürte es immer noch, als sie in ihrem Büro ankam, ihre Unterlagen auf den Tisch fallen ließ und den Computer hochfuhr. Tatsächlich: Kaum hatte sie ihre E-Mails geöffnet und einen ersten Wust an Spam-Mails gelöscht, entdeckte sie seine Nachricht.
»Hallo Hannah,
hoffentlich bist du wohlbehalten zu Hause angekommen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, dich endlich einmal wiederzusehen, und ich möchte mich noch mal herzlich für deinen Besuch bedanken. Fast kam es mir vor, als hätten wir tatsächlich für einen Augenblick die Zeit zurückgedreht - als wäre zwischen uns alles wieder wie früher ...«
Sie schüttelte den Kopf und überflog den Rest des
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