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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Rechner einfach laufen, wenn du fertig bist.«
    Hannah wartete, bis er draußen war, ehe sie sich der Mail widmete. Bartels war wirklich ein netter Kerl, aber im Moment war sie lieber allein. John hatte ihr die Nachricht ohne jeden Kommentar geschickt. Sie bestand aus einer einzigen Bilddatei. Hoffentlich war es kein Erinnerungsfoto vom Tempel der Hatschepsut. Wie denn auch, sie hatte keine Kamera bei ihm bemerkt.
    Sie öffnete die Datei. Verwundert beobachtete sie, wie sich das Bild Zeile für Zeile aufbaute. Es war eine Satellitenaufnahme. Vermutlich mit einem Programm wie Google Earth erstellt. Der Ausschnitt einer Landschaft im Maßstab eins zu fünfzig-tausend. Der Harz. Hannah runzelte die Stirn. Wenn das ein Scherz sein sollte, so war es kein guter. Warum schickte John ihr eine Karte von einer Gegend, die direkt vor ihrer eigenen Haustür lag? Der Harz war nur knappe hundert Kilometer entfernt. Was sollte das? Es waren keine Besonderheiten hervorgehoben - nichts, was darauf hindeutete, was er ihr zu sagen versuchte. Warum hatte er ihr nicht wenigstens ein paar Zeilen geschrieben?
    Ratlos blickte sie auf die Ebenenfunktion des Programms. Plötzlich bemerkte sie, dass es noch eine zweite Bildebene gab. Sie hatte sie nur deshalb nicht erkannt, weil sie auf transparent geschaltet worden war. Hannah klickte auf einen Schieberegler und änderte die Deckkraft. Ein Foto der Himmelsscheibe erschien. Zweifelsfrei das Foto, das sie ihm geschickt hatte. Er hatte die Aufnahme passgerecht über den Kartenausschnitt gelegt. So weit, so gut. Sie zog den Regler erst nach links, bis die Karte von der Scheibe restlos verdeckt wurde, dann wieder nach rechts. Die Scheibe verblasste, und die Karte tauchte wieder auf. Ratlos wiederholte Hannah den Vorgang. Sie begriff immer noch nicht, worauf er eigentlich hinauswollte. Ihr Blick fiel auf die Plejaden. John hatte die Scheibe so über die Karte gelegt, dass sich das Siebengestirn mit der höchsten Erhebung des Harzes, dem Brocken, deckte. Sterne ... Erhebungen?
    »Das ist es«, flüsterte Hannah. Noch einmal zog sie den Regler. Jedes der Goldplättchen auf der Scheibe deckte sich mit einer Erhebung des Harzes, einem Berg, einem Hügel oder einem Buckel. Zunächst hielt sie das für eine optische Täuschung, doch als sie den Vorgang wiederholte, war sie sich sicher. Jedem der kleinen Goldplättchen auf der Scheibe entsprach ein Berg - beziehungsweise ein Hügel - auf dem Satellitenbild. »Du meine Güte«, flüsterte sie. »Wie genial ist das denn?« Es war, als wäre die Scheibe eine Art Karte, eine Luftbildaufnahme des Harzes, mit dem Brocken als zentralem Element. Ein paarmal noch zog sie den Regler hin und her, so begeistert war sie von dieser ungewöhnlichen Bilddatei. Doch nach einer Weile meldete sich der Verstand wieder zu Wort. So faszinierend die Idee auch sein mochte, sie war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wie hätten die Bewohner dieser Gegend vor viertausend Jahren Luftbildaufnahmen anfertigen sollen? Völlig ausgeschlossen. Blieb natürlich noch die Möglichkeit, dass sie das Land mittels Triangulation vermessen hätten. Aber waren die damaligen Menschen dazu überhaupt in der Lage gewesen? Immerhin ging es dabei um die großräumige Vermessung der Erdoberfläche mittels Winkelberechnung.
    Und dann noch mit solcher Präzision? Man durfte nicht vergessen, die Gegend war damals dicht bewaldet gewesen. Selbst auf Hügeln dürfte kaum genügend Fernsicht geherrscht haben, um präzise Landvermessung zu betreiben. Dann war die Übereinstimmung der Sterne mit den Hügeln also nur ein Zufall? Fünfundzwanzig Sterne und die Plejaden als sechsundzwanzigstes Element? Ein ziemlich großer Zufall.
     
     
9
     
    Das Metall begann von den Rändern her zu glühen. Funken stoben in alle Richtungen und brannten kleine Löcher in den Boden. Sein muskelbepackter Körper glänzte vor Schweiß. Die Luft begann zu kochen. Brennend heißer Dampf strich über sein Gesicht und verbrannte die Haarspitzen. Der Geruch trieb ihm die Tränen in die Augen. Er justierte seine schief sitzende Brille, bis sie wieder sauber abdichtete. Die Gase, die bei seiner Arbeit entstanden, waren gesundheitsschädlich, aber das kümmerte ihn nicht. Hauptsache, er erreichte die Temperatur, die dem Metall jenen unverwechselbaren Schimmer gab, den seine Skulptur verlangte. Als er glaubte, dass das Metall nicht mehr heißer werden würde, packte er es mit der Zange und tauchte es in einen Eimer mit Wasser.

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