Nebra
Kochend und zischend entwich die Hitze ins kühlende Nass, wobei sich schuppenartig Partikel von der Metalloberfläche lösten. Eine Wolke von Dampf schoss in die Höhe und raubte ihm die Sicht.
Als sich der Nebel etwas verzogen hatte, nahm er das Metallstück heraus und betrachtete es eingehend. Zufrieden nickend ging er hinüber auf die andere Seite der Werkstatt. Dort stand ein riesiger Tisch, auf dem bereits weitere Metallteile darauf warteten, zusammengeschweißt zu werden. Karl Wolf lebte und arbeitete als freier Künstler in Leipzig. Er hatte sich diese Stadt ausgesucht, weil sie jung war und leben-dig. Eine Stadt, in der Kunst und Kultur nicht nur als Aushängeschilder fungierten, sondern ein zentraler Bestandteil des täglichen Lebens waren. Genaugenommen hatte sich Leipzig in den letzten Jahren zu der Kunstmetropole Deutschlands gemausert. Kein Wunder, dass ein Weltklassekünstler wie Neo Rauch, dessen Werke in Amerika zu unglaublichen Summen gehandelt wurden, ausgerechnet hier seine Werkstätten hatte, gar nicht weit von Karls eigener Lagerhalle entfernt. Auch wenn es für die meisten Künstler trotzdem bedeutete, weiter am Existenzminimum zu leben, so arbeiteten sie hier doch am Puls der Zeit. Obendrein waren die Mieten einigermaßen niedrig. Die Halle, in der er arbeitete und die meiste Zeit des Jahres wohnte, kostete weniger als vierhundert Euro im Monat. Für einen wie ihn ein stolzer Preis. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er nur überlebt, weil ihm ein Freund unter die Arme gegriffen hatte. Doch in anderen Städten war es auch nicht besser. Seinen Kollegen in Berlin ging es teilweise noch schlechter. Nicht wenige von ihnen nagten am Hungertuch, was sie aber nicht davon abhielt, die Hauptstadt immer noch als Nabel der Welt zu propagieren. Über solchen Unfug konnte Karl nur lächeln. Wenn schon arm, dann wenigstens in Leipzig und in dem Wissen, dass das, was man tat, registriert wurde - und vielleicht sogar für irgendjemanden von Bedeutung war. Doch nun schien sich das Blatt zu wenden. Ein Angebot der Stadt hatte ihm einen unerwarteten Geldsegen beschert. Die nächsten Monate würde er ohne die Finanzspritzen seines Freundes überstehen. Und wer weiß: Vielleicht konnte er sogar einen Teil des Darlehens wieder zurückzahlen. Er nahm seine Schutzbrille ab und trank einen Schluck Wasser, als ein lautes Pochen am Tor ertönte. »Ist offen«, rief er und stellte die Flasche ab. »Einfach drücken, die Tür klemmt ein bisschen!« Er warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor zehn. Wer mochte ihn so früh am Tag besuchen? Dass es einer von seinen Freunden war, hielt er für unwahrscheinlich. Die meisten krochen erst ab Mittag aus ihren Löchern. Ein zahlungskräftiger Kunde? Auch wenn er zurzeit bis über beide Ohren in Arbeit steckte, gegen einen zusätzlichen Job hätte er nichts einzuwenden.
Karl griff nach einem verschmierten Lappen und wischte sich die Hände ab, während er zur Tür ging. Er war noch nicht weit gekommen, als der Besucher von dem bockigen Tor offenbar die Nase voll hatte und es mit einem herzhaften Tritt öffnete. Es trat eine gutaussehende Frau ein, Mitte dreißig, mit breiten Schultern und kurzgeschnittenen Haaren. Sie trug eine schwarze Lederjacke, schwarze Jeans und schwarze Springerstiefel. Einzig ihr T-Shirt, auf dem schwarze Springerstiefel. Einzig ihr T-Shirt, auf dem
Karl blieb wie angewurzelt stehen. Damit hatte er am wenigsten gerechnet. Ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Cynthia?«
Die Frau blickte auf seinen nackten, verschwitzten Oberkörper und erwiderte sein Lächeln. »Komme ich ungelegen?« »Ob ...? Natürlich nicht.« Er pfefferte den Lappen in eine Ecke, eilte auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Nach anfänglichem Zögern erwiderte sie die Umarmung. Beinahe eine Minute standen sie so da, engumschlungen. Er hätte nie für möglich gehalten, seine alte Freundin so bald schon wieder in die Arme schließen zu dürfen. Er fühlte ein leichtes Zittern ihrer Arme und meinte sogar ihren Herzschlag zu spüren. Als er sie wieder freigab und sie zu Atem kommen ließ, trat er einen Schritt zurück. »Lass dich anschauen, Cyn. Mein Gott, du siehst phantastisch aus.« Er verschwieg, wie gut sie sich anfühlte. Cynthia nahm das Kompliment mit einem Lächeln entgegen. »Was tust du hier?«, platzte er heraus. »Müsstest du nicht eigentlich ...?«
»... im Knast sitzen?«, beendete sie die Frage. »Nein. Ich bin raus, Karl. Sie haben mich rausgelassen.«
Die
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