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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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aus der Vergangenheit tauchten vor ihrem inneren Auge auf, Bilder von seltsamen Skulpturen, einem schwarzen Tempel und einem steinernen Auge. Sie blieb stehen.
    »Alles in Ordnung?« Michael blickte sie fragend an. »Wir müssen da nicht hineingehen, wenn du nicht willst.« »Scheiß Klaustrophobie«, sagte sie und atmete ein paar Mal kräftig ein und aus. »Ich sollte wirklich mal etwas dagegen unternehmen.«
    »Hast du das Problem schon länger?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Eine alte Geschichte. Nichts, worüber ich im Dunkeln sprechen möchte, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Okay, aber ich muss dich warnen: Hier kommt ein ziemlich enger Durchgang. Überlege dir lieber zweimal, ob du da hinein möchtest.«
    »Kein Problem, ehrlich«, log sie tapfer. »Ich habe die Sache im Griff. Es geht schon wieder. Komm, zeig mir deine Hexen.« »Wie du willst.« Er drehte sich um und tauchte in die Tiefen des Berges. Hannah zog den Kopf ein und zwängte sich durch einen Spalt, der eher für Minderjährige denn für ausgewachsene Hexen gemacht zu sein schien. Wie Michael angekündigt hatte, war es ein verdammt kaltes und enges Loch. Noch ein paar Schritte, und vollkommene Dunkelheit hüllte sie ein.
    Das Wesen erreichte den Pfad. Die Spur war frisch. An manchen Stellen hatten die Schuhe der Wanderer Abdrücke hinterlassen, in die jetzt langsam Oberflächenwasser einsickerte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die beiden erst vor kurzer Zeit hier entlanggekommen waren. Schnüffelnd, die Nase dicht über dem Boden haltend, kroch es weiter. Sonnenlicht brach durch die Zweige und fiel auf den Boden. Die Helligkeit war qualvoll. Am liebsten wäre es umgekehrt, doch seine Neugier und sein Hunger überwogen die Qualen. Immer im Schatten bleibend und den hellen Flecken am Boden ausweichend, folgte es der Spur. Plötzlich, dort, wo der Wald sich lichtete und den Blick ins Tal freigab, blieb es stehen. Die Wanderer hatten hier eine Rast eingelegt. Der Geruch war an dieser Stelle besonders intensiv. Wie eine Dunstglocke hing er über der Lichtung. Einer der beiden hatte etwas fallen gelassen, ein buntbedrucktes Papier von geradezu ekelerregendem Gestank. Reste irgendeiner süßen, klebrig braunen Substanz befanden sich an seiner Innenseite. Das Wesen schüttelte sich. Angewidert verließ es die Lichtung und folgte dem Weg weiter bergan. Nach einer kurzen Zeit blieb es erneut stehen. Prüfend hielt es die Nase in den Wind, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht getäuscht hatte. Nein, kein Zweifel. Die beiden hatten an dieser Stelle den Weg verlassen und sich ins Unterholz geschlagen. Ihr Duft drang klar und unmissverständlich zu ihm hindurch. Vermischt war er mit dem Geruch von Wasser, Felsen und Moos.
    Mit einem Mal wusste das Wesen, wohin die beiden wollten. Zu der verborgenen Höhle oberhalb des Felsplateaus. Ein Ort, den nur wenige kannten. Das Wesen entblößte seine Zähne.
    Hannah begann sich zu fragen, warum Michael seine Taschenlampe nicht herausholte. Das Licht war so schwach, dass man die Hand vor Augen kaum sehen konnte. Mühsam musste sie sich vortasten, wollte sie nicht Gefahr laufen, an einem der rauhen Felsen entlangzuschrammen. Wasser tropfte von der Decke und auf ihr Haar. Ein einzelner Tropfen verirrte sich in ihren Hemdkragen und lief ihr den Rücken hinab. Schaudernd ging sie weiter. Die Lichtverhältnisse wurden so schlecht, dass sie sich entschied, ihre eigene Lampe herauszuholen. Sie wollte sie gerade einschalten, als sie eine Veränderung bemerkte. Die Höhle wurde im hinteren Teil wieder heller. Vermutlich war das der Grund, warum Michael im Dunkeln gegangen war. Er wollte ihr dieses Schauspiel nicht verderben. Ein schmaler Spalt in der Decke spendete schwaches Tageslicht. Ein einziger Lichtstrahl durchdrang das Felsgewölbe und fiel bis auf den Boden. Hannah blickte verwundert auf die seltsame Erscheinung. Der Lichtstrahl sah aus wie eine Säule aus flüssigem Glas. Wasserpfützen warfen das Licht zurück und erzeugten mannigfaltige Farbspiegelungen, die das umliegende Felsgestein schimmern ließen, als wäre es mit Juwelen besetzt.
    »Das war es, was ich dir zeigen wollte«, sagte Michael mit leiser Stimme. »Ich hatte so gehofft, dass wir es rechtzeitig schaffen würden. Dieses Schauspiel kann man nur eine knappe Stunde lang erleben, und auch nur dann, wenn der Himmel klar ist.«
    »Atemberaubend.« Hannah streckte ihren Arm aus und tauchte ihre Hände in die Helligkeit. Das Licht hatte beinahe

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