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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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die beweideten Ebenen und das angrenzende Meer goss. Ein steifer Wind blies über das Land und zerzauste das hohe Gras rechts und links der Straße zu immer neuen Formen. Hannah hatte mit ihrem Mietwagen vor einer halben Stunde die kleine Stadt Wiek passiert und seitdem keine einzige menschliche Behausung mehr zu Gesicht bekommen. Keine Tankstelle, keinen Gasthof, kein Bauernhaus, nichts. Lediglich ein paar Schafe standen hier und da herum, die mit ihrem dicken wuscheligen Fell zwischen den Heidebüschen hervor-lugten wie Findlinge, die ein eiszeitlicher Gletscher zurückgelassen hatte. Wäre nicht vor wenigen Minuten ein Auto entgegengekommen, sie hätte vermutet, in einen völlig menschenleeren Landstrich geraten zu sein - ein Eindruck, der nichts Bedrohliches hatte, sondern sie mit einem Gefühl von Freiheit erfüllte. Es war, als würde sie endlich wieder frei atmen können.
    Doch so schön der Anblick auch sein mochte, Hannah freute sich auf die Ankunft. Erst der Abflug vom Dresdner Flughafen am Freitagabend, die Übernachtung in Gatwick und das Warten auf den Anschlussflug, dann weiter nach Inverness - der Hauptstadt der schottischen Highlands - und jetzt noch die lange Autofahrt entlang der kurvigen Küstenstraße, die zur nordöstlichen Spitze der britischen Insel führte - all das forderte seinen Tribut. Sie war jetzt seit annähernd zehn Stunden unterwegs, und so langsam spürte sie jede einzelne Minute. Als hätten die Götter des Nordens ihren Wunsch erraten, tauchten am Horizont einige weiße Häuser auf, die eine kleine Ortschaft ankündigten. Dicht zusammengedrängt wie eine Schafherde standen sie an den turmhohen Klippen von John o'Groats. Dahinter begann das große Nichts, das Nordmeer, das sich bis Island und dahinter noch weiter bis Grönland erstreckte. Dies war der nordöstlichste Zipfel Englands, eintausendvierhundert Kilometer entfernt von Land's End, der Südspitze Cornwalls. Hannah hatte ihr Ziel erreicht. Einquartiert war sie im größten Gebäude des Ortes, dem neu renovierten und kürzlich wieder eröffneten John o'Groats House Hotel. Ein spitzgiebeliges, schlossähnliches Gebäude, das seine Existenz dem Umstand verdankte, dass unweit von hier die Fähre zu den Orkney-Inseln ablegte. Der Ort war benannt nach dem Holländer Jan de Groot, einem Seemann, dem König James der Vierte im Jahre des Herrn 1496 das Recht zum Fährbetrieb zu den Orkneys eingeräumt hatte - nur vier Jahre, nachdem Kolumbus die Neue Welt entdeckt hatte. Die windgepeitschte Inselgruppe lag nur zwölf Kilometer entfernt und war bei schönem Wetter mit bloßem Auge sichtbar.
    Hannah stellte den Wagen auf den hoteleigenen Parkplatz, stieg mit steifen Bewegungen aus und schnappte sich ihren Koffer. Hier pfiff ein eisiger Wind.
    Das Hotel, das sie betrat, war liebevoll in spätviktorianischem Stil eingerichtet. Tische, Anrichten und Sitzmöbel, die mit barocken Schnitzereien versehen waren, daneben Vasen und Porzellan aus Fernost, an den Wänden einige Jugendstilbilder. Alles in allem eine bunte Mischung, in der Hannah sich sofort wohl fühlte.
    Nachdem sie von einem jungen Burschen auf ihr Zimmer geführt worden war und sie sich dort etwas frisch gemacht hatte, ging sie hinunter an die Bar.
    Der Mann hinter dem Tresen war ein typischer Guv oder Governor, wie die Barkeeper in Schottland genannt werden -groß, bärtig, dickbäuchig und mit einer Nase ausgestattet, die Zeugnis von seiner Liebe zum Hochprozentigen ablegte. Ein Mann, dessen einzige Aufgabe darin zu bestehen schien, alles und jeden zu kennen. Vermutlich der beste Informant im Umkreis von mehreren hundert Quadratkilometern. Hannah blickte sich um und konnte sich das Lächeln kaum verkneifen. In der Bar versammelte sich eine bunte Mischung aus Einheimischen und Reisenden, die hier, unter den Augen zahlreicher ausgestopfter Seevögel, auf ihre Fähre warteten. Frag Aidan Dunbar stand auf einem Messingschild auf dem Tresen, das von der salzhaltigen Luft schwarz angelaufen war. Sie hatte vor, genau das zu tun.
    »Was kann ich dir bringen, meine Süße?«, fragte Aidan, während er mit einem Lappen die Porzellanknäufe der Zapfhähne abwischte.
    Hannah, die nicht wusste, was man hier so trank, aber unter schrecklichem Durst litt, bestellte einen Cider. Ihr Englisch war ein wenig eingerostet. »Cider, hm?«
    »Und einen Whisky«, fügte sie mit Blick auf die beeindruckende Ansammlung von Flaschen hinter seinem Rücken hinzu. »Ah.« Die schattigen Augenbrauen hoben

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