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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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zwar Rudeltiere, aber das hier passt überhaupt nicht ins Schema. Außerdem müssen sie recht schwer gewesen sein. Selbst ausgewachsene Rottweiler würden nicht genug Gewicht aufbringen, um diese Tür aus den Angeln zu heben.« Er strich sich mit der Hand über die Stoppelhaare. »Dann wollen wir mal reingehen. Übrigens ...«, er berührte Ida am Arm,»... da drinnen sieht es nicht besonders schön aus. Ich wollte euch nur warnen.«
    Ida bemerkte einen fauligen Geruch, der aus dem Inneren zu kommen schien. Sie machte sich auf einiges gefasst, als sie die Hütte betrat.
    Der Gestank schlug ihr wie eine Wand entgegen. Es war schlimmer als in einem städtischen Hundezwinger. Steffen hielt sich die Hand vor die Nase. Den bestialischen Geruch ignorierend, trat Ida in die Mitte des Raumes und blickte sich um. Mit kühler Sachlichkeit erfasste sie die Details und verschaffte sich einen Eindruck. Sie hatte früh gelernt, dass man menschliche Abgründe nicht an sich heranlassen durfte, wenn man als leitende Kommissarin einen guten Job machen wollte. Genauso wenig, wie ein Chirurg Muskeln, Knochen und Blut als beseelte Materie betrachten durfte, war es einem Kriminalisten gestattet, eine emotionale Beziehung zu der Straftat aufzubauen. Eine zerstörte Hüfte war nur ein Mechanismus, eine Leiche nur ein toter Körper - nicht mehr als ein kaputter Toaster oder eine Kaffeemaschine. Hätte sich Ida all das Leid und das Elend, das sie in den vergangenen Jahren gesehen hatte, zu Herzen genommen, sie wäre mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit daran zerbrochen. Natürlich war diese Form der Abschottung nicht immer leicht, besonders dann nicht, wenn die Opfer Kinder waren.
    Sie blickte sich um. Das Entsetzen schien wie in einem Kühlschrank konserviert worden zu sein. Die zerstörte Tür wirkte von innen betrachtet wie ein offener Mund mit ausgeschlagenen Zähnen. Der zerbrochene Riegel lag auf dem Boden, genau neben einem Balken, der sich aus dem Dachstuhl gelöst hatte. Überall waren Schleif- und Kratzspuren am Boden, die von einem heftigen Kampf zeugten. Die Wände waren mit etwas beschmiert, das wie eine Mischung aus Blut und Kot aussah und auch genauso roch. Ein zerfetztes Hemd, an dem ebenfalls Spuren von Blut zu sehen waren, lag neben einem dunklen Fleck auf dem Boden, bei dem es sich laut Aussage von Sachverständigen um menschlichen Urin handelte. Steffen Werner verließ mit einem würgenden Geräusch die Hütte. Auch Ida spürte, wie es ihr trotz ihres Schutzschildes die Kehle zuschnürte.
    »So etwas habe ich überhaupt noch nicht gesehen«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Waren das Menschen oder Tiere?« 
    »Diese Frage beschäftigt auch die Spurensicherung«, sagte Pechstein. »Wir haben zwar überall Proben entnommen und sie an das Labor geschickt, aber du kennst ja die Abläufe. Bis die Ergebnisse vorliegen, tappen wir im Dunkeln. Eine verdammte Schweinerei ist das hier.«
    »Ich will, dass die Ermittlung beschleunigt wird«, sagte Ida und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. »Ich werde mich noch heute mit dem Kriminaldirektor in Verbindung setzen. Der Fall hat absolute Priorität. Bis dahin müssen wir hier allein klarkommen.« Sie blickte ihrem ehemaligen Chef in die Augen, dann sagte sie: »Ich bin froh, dass du mit an Bord bist, Ludwig.«
    »Danke.« Sein Lächeln war in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Ich wünschte, ich hätte dir mehr sagen können. Eine Sache haben wir jedoch herausgefunden. Der Förster hat uns darauf gebracht.« Er hielt ein durchsichtiges Plastiktütchen zwischen den Fingern. Darin befand sich ein Büschel grauer, verfilzter Haare. Ida nahm die Tüte und hielt sie gegen den schmalen Lichtstreifen, den der herausgefallene Dachbalken hinterlassen hatte.
    »Was ist das?«, fragte Ida. »Teppich? Haare? Vielleicht von einem Tier?«
    »Nicht schlecht«, entgegnete Pechstein. »Es sind Haare - Fell, um genau zu sein. Unser Laborant hier vor Ort hat sie unter sein Mikroskop gelegt. Und jetzt halt dich fest: Die Wurzeln sind abgestorben. Diese Haare stammen von einem Wolf. Einem toten Wolf.«
     
     
     
     
     
26
    Samstag, 26. April
     
    Schottland präsentierte sich in diesen letzten Tagen des April von einer ungewohnt schönen Seite. Das Licht des späten Nachmittags tauchte die schroffe Felsküste der Grafschaft Caithness in ein verwirrendes Spiel aus Licht und Farben. Zwischen den schnell ziehenden Wolken schimmerte der blaue Himmel hervor, während die tiefstehende Sonne reinstes Licht auf

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