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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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um das Haus. Sie untersuchten Büsche und Bäume, maßen Strecken ab, schössen Fotos und sprachen mit leisen Stimmen in Diktiergeräte. Überall standen Halogenscheinwerfer, die den Wald in eine unnatürliche Helligkeit tauchten. Rot-weiß gestreifte Flatterbänder umgrenzten das Areal. Niemand, der nicht zur Spurensicherung gehörte, durfte diesen Bereich betreten. Eine Aura gespannter Erwartung hing über allem.
    »Da wären wir«, sagte Kaminski. »Dann werde ich mich mal wieder an die Arbeit machen.«
    »Werden Sie uns denn nicht begleiten?« Ida hob die Augenbrauen. »Ich hatte gehofft, von Ihnen einen Bericht über den Tathergang zu bekommen.«
    »Dafür ist jemand anderer zuständig.« Kaminski deutete in Richtung der Hütte. »Befehl von oben.« Er schüttelte Ida und Steffen die Hände, nicht ohne zu betonen, wie sehr es ihn gefreut hatte, sie mal wiederzusehen, dann kehrte er zu seinem Team zurück.
    Ida und Steffen tauschten einen vielsagenden Blick, dann wandten sie sich der Waldhütte zu. Die schwere Tür hing krumm und schief an einem Scharnier. Was mochte es wohl für Kraft gekostet haben, eine solche Tür aus den Angeln zu heben? Gerade als Ida sich diese Frage stellte, trat ein stämmig wirkender Mann aus dem Haus. Das Gesicht unrasiert, wirkte er ein bisschen wie ein Obdachloser, den man bei seinem Mittagsschläfchen gestört hatte.
    Hannah blickte verwundert auf die Erscheinung. Dann brach es aus ihr heraus: »Ludwig.«
    Der Mann hob seinen Arm zum Gruß und kam zu ihnen herüber.
    Kriminalhauptkommissar a.D. Ludwig Pechstein war Idas ehemaliger Vorgesetzter - ihr Lehrer, ihr Mentor, ihr Freund und ihr Vorbild. Zumindest über lange Jahre hinweg. Ein Mann, der eine beinahe legendäre Quote in Sachen Verbrechensaufklärung vorzuweisen hatte. Ida konnte sich an keinen Fall erinnern, den er nicht zum Abschluss gebracht hatte, ausgenommen die spektakuläre Entführung von vier Jugendlichen während der Walpurgisnacht am Brocken. Der Fall lag zwanzig Jahre zurück, doch Pechstein hatte nie aufgehört, sich dafür zu interessieren. Sein Aktenschrank war voll von Zeitungsartikeln und Berichten über sämtliche Entführungsfälle, die in den letzten Jahren rund um den Brocken herum stattgefunden hatten. Und das waren nicht eben wenige. Die Region Hochharz galt als eines der Gebiete Deutschlands, in denen unerklärlich viele Menschen verschwanden. »Was tust du hier?« Sie war immer noch völlig perplex. »Sonderermittlung«, lautete die knappe Antwort, die Pechstein ihr mit einem knappen Grinsen servierte. »Auf wessen Anordnung?« »Treptow.«
    »Der Polizeipräsident persönlich? Ich verstehe nicht...« »Brauchst nicht beunruhigt zu sein«, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Er und ich sind befreundet, wie dir ja bekannt sein dürfte. Ihm sind ein paar Dinge zu Ohren gekommen, und er hat mich beauftragt, dir etwas unter die Arme zu greifen. Du weißt ja, dass ich mich in der Gegend ganz gut auskenne. Die Sache könnte vielleicht was mit der alten Geschichte zu tun haben.«
    Ida spürte, wie es ihr vor Empörung die Luft abschnürte. Was hatte der Polizeipräsident sich nur dabei gedacht? Er hatte es nicht mal für nötig befunden, sie vorher zu informieren. Das roch nach alter Kumpanei.
    »Ludwig, bei aller Freundschaft: nein«, sagte sie. »Du bist im Ruhestand. Und ich habe hier ein perfekt aufeinander eingestimmtes Team. Jede Einmischung würde da nur stören.« »Ach komm schon, Ida«, sagte Pechstein. »Ich weiß doch, wie hoffnungslos unterbesetzt ihr seid. Außerdem langweile ich mich zu Tode. Es würde mir guttun, wieder an so einem Fall zu arbeiten. Ich verspreche dir, mich nicht in die laufenden Ermittlungen einzuschalten und dir nicht im Weg zu stehen.« Er machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Es ist ziemlich einsam, seit Hilde tot ist. Ich brauche eine Beschäftigung.
    Vielleicht wirst du das verstehen, wenn du mal in mein Alter kommst. Es fühlt sich schrecklich an, nicht mehr gebraucht zu werden.«
    Ida zögerte. Seine Worte hatten bei ihr eine Saite zum Klingen gebracht. Sie warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Über ein Jahr hatte sie ihn jetzt schon nicht mehr gesehen. Sie war erschrocken darüber, wie sehr er in dieser kurzen Zeit gealtert war. Mitleid stieg in ihr auf.
    »Na schön«, seufzte sie. Ihre innere Stimme ignorierend, gab sie ihren Gefühlen nach. Was sollte sie tun? Sie war schließlich nicht aus Stein.
    »Aber nur als Berater und nur in

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