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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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den Berg, der mit kaltem Auge auf sie herabblickte. Still und dunkel lag er da. Ein Haufen lebloses Gestein, so könnte man meinen.
    Doch der Eindruck trog.
    Tief in seinem Inneren rumorte es. Eine Kraft, älter als dieses Land, älter als die Menschen, die es bewohnten, stand in Begriff, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Eine Kraft, die seit Tausenden von Jahren geschlafen hatte und die nun geweckt worden war. Über dem Haupt des Berges brodelte die Atmosphäre. Aufgeheizte warme Luftmassen prallten auf eine sich rasch zusammenbrauende Kaltfront und begannen, in einem infernalischen Tanz, umeinanderzukreisen. Wassertröpfchen, so klein, dass sie dem bloßen Auge nur als Nebel erschienen, rieben gegeneinander und bauten ein enormes Feld an elektrischer Energie auf. Die pechschwarzen Wolken begannen von innen heraus zu leuchten, flackerten, erloschen und erwachten von Neuem zum Leben. Nicht lange danach verließ der erste Blitz die brodelnde Hexenküche und schlug mit einem markerschütternden Knall in den aufgeweichten Boden. Das allabendliche Spektakel hatte begonnen. Doch diesmal war es heftiger als je zuvor.
    Bertram Renz, der Manager des renommierten Brockenhotels, blickte sorgenvoll in den rasch dunkler werdenden Himmel. Der Wetterbericht klang nicht gut. Ein Sturmtief braute sich über dem Harz zusammen und führte kalte Luft aus den oberen Schichten der Atmosphäre herab. Niemand konnte genau sagen, ob es sich um ein natürliches Phänomen handelte und ob es irgendwie im Zusammenhang mit diesem seltsamen Wetterleuchten stand, das seit einigen Tagen zu Unruhe unter seinen Gästen geführt hatte. Die Stimmung war aufgeladen, in jeder Hinsicht.
    Dabei hatte bis vor kurzem alles so gut ausgesehen. Sein Hotel war ausgebucht, und zwar für eine ganze Woche. Unter den Gästen befanden sich bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Politiker, Künstler, Stars aus Film und Fernsehen. Das hatte es noch nie gegeben, nicht einmal während der Jahrtausendwende, nicht während der grandiosen Skisaison vor fünf Jahren. Nicht, seit er hier das Sagen hatte. Es war, als habe sich sein langgehegter Wunsch endlich erfüllt. Das Brockenhotel hatte es verdient. Das am höchsten gelegene Hotel Norddeutschlands war erst vor drei Jahren von Grund auf modernisiert worden. Die Zimmer im ältesten Fernsehturm Deutschlands waren alle auf internationalen Standard angehoben worden, die Aufzüge ersetzt und die Elektrik erneuert worden. Zimmer und Gastronomie befanden sich auf insgesamt acht Stockwerken. Per Satellit konnten sich die Gäste die neuesten Kinofilme ansehen. Das gesamte Untergeschoss war zu einem Wellness-Bereich umfunktioniert worden, mit Saunalandschaft, Whirlpools, Fitness-Bereich und Schwimmanlage. Auch das Restaurant genügte gehobenen Ansprüchen. Der Umbau hatte etliche Millionen verschlungen, und die Banken warteten immer noch auf ihr Geld. Zwar hatte der Harz in den vergangenen Jahren in Sachen Tourismus beachtlich zugelegt, aber die Einnahmen reichten nicht mal annähernd, um die Zinsen zu tilgen. Hätte er nicht den Bundeszuschuss bekommen, er hätte den Laden dichtmachen können. Doch mit einem Schlag schien sich das zu ändern. Die frische Brise, die in Form der fünfhundertsten Walpurgisnacht über den Berg gefegt kam, spülte unzählige Gäste und Schaulustige heran. Noch niemals zuvor waren so viele Hotels so früh ausgebucht gewesen. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer unter Veranstaltern herumgesprochen, die kurzerhand sämtliche Bühnen und Auftrittsorte vorbereiten ließen und ihre lokalen Künstler gegen Stars von internationalem Rang austauschten. Das Programmheft las sich wie ein Who is Who der Musikszene. Funk, Fernsehen und Presse berichteten über die anstehenden Veranstaltungen und lösten einen Schneeballeffekt aus. Die Buchungszahlen schössen in die Höhe, und es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, da waren die meisten Hotels in der Gegend belegt. Viele der Gäste hatten zeitig geplant und nutzten die Gelegenheit für einen kleinen Zwischenurlaub. Manche brachten ihre Kinder mit, auch wenn sie deswegen für ein oder zwei Tage die Schule schwänzen mussten. Der Trend, Walpurgis als zweites Faschings- oder Halloweenfest auszurufen, war wie ein Ozeandampfer, der sich nicht mehr stoppen ließ. Renz hatte das Brockenhotel entsprechend dekorieren lassen. Das Restaurant bot Hexenmenüs an, es gab eine Gruseldisco speziell für Kinder, und erfahrene Bergführer waren

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