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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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wenn sie sich nicht unterordneten. Die Seherin war in der Lage, Flüche auszusprechen, die so mächtig waren, dass sie selbst den verderbtesten Kreaturen die Angst in den Pelz trieben. Die Wächter wussten um die Macht dieser Flüche und senkten, kaum dass ihre Meisterin sich näherte, ihre Köpfe. Winselnd krochen sie vor ihr am Boden.
    Die Seherin legte ihre Hände auf die Köpfe der Wächter, wiegte sich vor und zurück und begann, einen alten Text zu rezitieren. Ein uraltes Lied, gesprochen in der Sprache des Gepriesenen. Der Schamane sah sich im hinteren Teil der Höhle um. Überall lagen Knochen verstreut. Zwischen Fellfetzen und blutigen Fleischresten sah er große Platten mit Resten des merkwürdigen Pilzes liegen. Die Wächter hatten sich also bereits satt gefressen.
    Mit einigen abschließenden Worten, die wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Steinplatte klangen, beendete die Seherin das Gebet und nahm ihre Hände von den Köpfen der Wächter. Unter dem strähnigen Fell begann es zu zucken. Muskeln bewegten sich, Gelenke wurden gedehnt. Die erste der Kreaturen stand auf und hob ihren Kopf. Böse funkelnde Augen betrachteten ihn. Der Schamane hielt dem Blick stand. Auch als das Wesen seine Zähne entblößte, wich er nicht zurück. Stärke, redete er sich ein, Stärke ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Du darfst jetzt nicht nachgeben, sagte er sich. Du darfst keine Angst haben. Sie können deine Angst riechen ...
    Jetzt hob auch der zweite Wächter den Kopf. Die beiden richteten sich auf und hielten witternd die Nasen in die Luft. Ein tiefes Knurren entrang sich ihren Kehlen. Der Schamane wich keinen Schritt zurück. Mit strengem Blick sah er auf die Kreaturen hinab und richtete seinen Stab auf sie. Der Kopf der Frau neigte sich unmerklich zur Seite. Ein zischendes Wort, und die Kreaturen verstummten augenblicklich. Mühsam erhob sich die Seherin und klopfte sich den Staub aus ihrer Kleidung. Die Rituale hatten auch bei ihr Spuren hinterlassen. Mit einem Anflug von Bedauern musste der Schamane feststellen, wie alt sie mit den Jahren geworden war. Ihre Zeit war gekommen. Schon bald würde er ausziehen und sich eine neue Gefährtin suchen müssen. Die Seherin wusste das. Sie hatte es immer gewusst. Aber noch war sie das Oberhaupt ihres Ordens. Ohne den Schamanen eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihm vorbei und öffnete die Tür des Verschlages. »Du kannst sie jetzt zum Siegel bringen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Wenn du dich beeilst, kannst du die Strecke in knapp zwei Stunden zurücklegen. Ich werde so lange die anderen informieren. Vergiss nicht, uns bleiben nur noch vier Tage.« Der Schamane nickte. Die entscheidende Phase hatte begonnen.
     
     
     
29
     
    Die Wände des Zimmers schienen ein Stück enger zusammenzurücken. Das Feuer, das eben noch hell gebrannt hatte, spendete plötzlich keine Wärme mehr. »Was sagen Sie da?« Hannah konnte es nicht glauben. »Wir vermuten, die Scheibe ist ein Schlüssel, der eine Art Tor oder Portal öffnet«, sagte John mit leiser Stimme. »Wir haben Hinweise, dass sie in einer Art Ritual eingesetzt wurde«, fuhr Stromberg fort. »Ein Ritual, das dazu dient, mit einer anderen Sphäre der Existenz in Verbindung zu treten. Einer parallelen Dimension, wenn Sie so wollen.« »Das ist doch ein Ammenmärchen, oder?« »Meinen Sie?« Er lächelte geheimnisvoll. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es dürfte Sie interessieren. Kommen Sie.« Er reichte ihr die Hand und zog sie aus dem bequemen Sessel. Kaum stand sie auf den Beinen, als sie ein leichter Schwindel überkam. Der Alkohol hatte sich wie eine warme Decke über ihre Nervenenden gelegt.
    »Alles in Ordnung?« John griff ihr stützend unter den Arm, doch Hannah entzog sich mit einer unwirschen Bewegung. »Danke. Es geht schon. Kommen Sie, zeigen Sie mir Ihr großes Geheimnis.«
    »Mit Vergnügen.« Ihr Gastgeber führte sie aus dem Wohnraum hinaus, wandte sich dann nach rechts und ging eine gemauerte Treppe hinab. Aus den grobgefugten Steinmauern kroch die Kälte und vertrieb die kuschelige Wärme. Hannah schlang die Arme um sich, während sie darauf achtete, sich auf den schmalen Stiegen nicht den Fuß zu vertreten. Als sie eine graue Stahltür erreichten, zog Stromberg einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss auf. Ein Schwall warmer, abgestandener Luft empfing sie.
    »Willkommen im Wunderland«, sagte er und hielt ihnen die Tür auf. Hannah trat ein und sah sich um. Sie stand in

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